Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 138
Die psycho-anthropologischen Typen der Verbrecherwelt (Ferri, Professor Enrico)
Text
Doch man bezeichnet hauptsächlich mit dem Namen des ge-
borenen wahnsinnigen Verbrechers den Menschen, bei dem die Ver-
brecherneurose sich mit einer Art von Geistesstörung vereint, wie sie
durch die leider immer vollständiger werdenden klinischen Tableaux
der Psychopathologie erklärt worden sind.
Man kann zwei Hauptarten der wahnsinnigen Verbrecher unter-
scheiden, wenn man sich, wie wir es thun, auf den Standpunkt des
Eindruckes stellt, den sie auf das Bewusstsein des gewöhnlichen
Mannes und das des Künstlers machen.
Wenn man von Wahnsinn spricht, so stellt sich der Mann aus
dem Volke darunter ein von einem heftigen Delirium voll unzusammen-
hängender Reden, das sich in Worte und Thaten überträgt, gequältes
oder ein in unbewussten und stupiden Blödsinn verfallenes Indivi-
duum vor. Das Publicum der Assisen und Gerichte und die meisten
Beamten würden die eine oder andere dieser classischen und einfachen
Formen der Geistesstörung constatiren, und doch nicht den Wahnsinn
eines Verbrechers zugeben. Der vollständige und deutlich erkennbare
Irrsinn ist namentlich in der endlosen Reihe der biologischen Kund-
gebungen und Verirrungen verhältnissmässig selten.
Daher ist das zweite Genre des Wahnsinns auch schwerer zu
präcisiren, ja es ist bei der Mannigfaltigkeit der Formen fast un-
fassbar.
Der Wahnsinn folgt wie das Verbrechen einer der Gesellschaft
parallelen Entwicklung und wird unaufhörlich weniger brutal und so-
zusagen geistiger. Nun werden aber diejenigen, die, ohne es zu wissen,
an einer wenig in die Erscheinung tretenden geistigen und moralischen
Störung, an einer kaum wahrnehmbaren Verirrung oder einem Mangel
gewisser geistiger Eigenschaften kranken, nur zu oft von ihrer eigenen
Familie und besonders von der öffentlichen Meinung und den Beamten
als Verbrecher und Perverse behandelt. Sie unterscheiden sich nicht
auffallend von der Durchschnittsmenschheit, und man muss, um ihre
unmoralischen und verbrecherischen Handlungen auf ihre merkliche
Ursache zurückzuführen, ziemlich bedeutende Kenntnisse der psycho-
logischen Pathologie besitzen.
Es ist bald eine Verwirrung der geistigen Eigenschaften und bald
die der moralischen Neigungen, die bei dem wahnsinnigen Verbrecher
vorwiegend ist. In dem letzteren Falle bestätigt sich, was Herr Verga
im Process Agnoletti mit dem ziemlich genauen Worte »der über-
legende Wahnsinn« genannt hat. Die Vernunft und die formelle Logik
sind nämlich anscheinend regelmässig, trotz der tiefen Krankheit der
Gefühle und Leidenschaften.
Es ist natürlich, dass die Künstler sich mit dem wahnsinnigen
Verbrecher nicht viel beschäftigt haben.
Denn einerseits hat die Krankheit der »klaren« Irren, diese an-
geborene und mehr oder weniger vollständige Form der Entartung,
erst ganz kürzlich, dank der schönen Arbeiten Morel’s über die mensch-
liche Entartung, studirt und genau erklärt werden können. Es war den
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 138, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-04_n0138.html)