Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 139

Die psycho-anthropologischen Typen der Verbrecherwelt (Ferri, Professor Enrico)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 139

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PSYCHO-ANTHROPOL. TYPEN DER VERBRECHERWELT. 139

Künstlern unmöglich, eine intime pathologische Verwirrung unter äusser-
lich fast normalen Zügen zu entdecken, wenn sie zu ihrer Leitung
nur die Erkenntniss des gesunden Menschenverstandes besassen — und
so hat die Beredsamkeit der Kunst nothgedrungen die Erforschung
dieses krampfigen Contrastes der Menschenseele vernachlässigen
müssen.

Was nun die Verschiedenheit der augenscheinlich irren Ver-
brecher anbetrifft, so konnten sie andererseits einer spiridualistischen
Glaubensepoche künstlerisch nicht interessant erscheinen. Denn wenn
man die Willkür zulässt, so kann man den Wahnsinn wohl als eine
Krankheit und ein Unglück betrachten. Diese Wahrheit wird im All-
gemeinen seit etwa hundert Jahren anerkannt. Auf diese Weise ist der
wahnsinnige Verbrecher für das Publicum eine lebende Antinomie;
wenn er wahnsinnig ist, so sagt man, ist er nicht schuldig, und dieser
Gesichtspunkt lähmt fast stets die künstlerische Schöpfung.

Daher ist in den Kunstwerken der verbrecherische Irre ziemlich
selten und mit Ausnahme Hamlet’s ziemlich bedeutungslos. Sein Typus
entgeht dem nicht tiefer blickenden Auge des Künstlers oder er er-
scheint ihm unter den Zügen einer Conventionellen und bemitleidens-
werthen Gestalt als Idiot oder Unzurechnungsfähiger, die in dem phan-
tastischen Gewebe des Romans oder Dramas eine ausserordentliche
Handlung vollbringt oder als Vorsehung wirkt.

Die Kunst verschmäht es auch, den Verbrecher aus Gewohnheit
zu schildern, und man trifft ihn nur in den Romanen und Dramen,
die bestimmt sind, besonders die Niederungen der Gesellschaft zu be-
schreiben.

In der That ist dieser Verbrecher in hohem Grade unästhetisch.
Seine Erziehung zum Bösen hat frühzeitig begonnen. Erbärmliche Eltern
haben ihn verlassen oder zur Ausschweifung angetrieben, oder noch
elenderen »Unternehmern« ausgeliefert, die vom Ertrage seines Bettelns
gelebt; und die Armee der Alkoholiker, Diebe, Mörder, Zuhälter, die
jede grosse Stadt in sich birgt, hat diesen erbärmlichen Recruten
schliesslich aufgenommen.

Seitdem hat der Unglückliche den zehrenden und unheilvollendenden
Aufenthalt im Gefängniss und die Polizeiaufsicht kennen gelernt, diese
verhängnissvolle und oft wirkungslose Verfolgung, und dieser »Schiff-
brüchige der Gesellschaft« — mehr das Product der socialen Ent-
artung, als individuellen Entartung — hat in einer beständigen und
ekelhaften Folge unbedeutender Delicte und unheilbarer Rückfälle gelebt.

Da dieser Verbrecher sich selten zu einem Excess der Gemeinheit
oder der Barbarei hinreissen lässt, der die Aufmerksamkeit des Publi-
cums auf ihn lenkt, so wird der Schlamm, in dem er in den
grösseren Städten haust, von den Künstlern verschmäht, wenn sie nicht

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 139, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-04_n0139.html)