Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 140

Die psycho-anthropologischen Typen der Verbrecherwelt (Ferri, Professor Enrico)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 140

Text

140 FERRI.

gerade in der niederen Verbrecherwelt den Gegenstand einer directen
Studie oder den wahren Rahmen für einen romanhaften und con-
ventionellen Spitzbubentypus suchen.

Die beiden anderen Verbrechertypen — der Verbrecher aus
Leidenschaft und der Verbrecher aus Gelegenheit — liefern der Kunst
dagegen Stoffe, die bis zur Banalität ausgebeutet und wiederholt worden
sind. Sie haben sogar lange Zeit »den Strang der Literatur« gezogen.

Das kommt daher, dass die Verbrecher unglücklicherweise mehr
interessiren als die ehrlichen Leute. Die Beschreibung eines normalen
Lebens erscheint uns leicht abgeschmackt, und andererseits lässt uns
ein tiefer Erhaltungstrieb vorzugsweise eher mit den charakteristischen
Zügen des furchtbaren Verbrechers bekannt werden als mit denen des
ehrlichen Menschen, von dem wir nichts zu fürchten haben. Sieht
man nicht, dass die Minister ihre Huldigungen und Schmeicheleien
weit mehr an die Deputirten der Opposition richten als an die treuen
Schafe der Regierungsheerde?

Heute indessen beschäftigt sich die literarische Kunst nicht mehr
einzig und allein mit dem Verbrechen und seinen Folgen. Wenn sie
auch noch immer Ungeheuer, Wahnsinnige, Schurken und Missethäter
beschreibt, so bemüht sie sich doch, auch die Menge der ehrlichen
Leute, die beklagenswerthe Legion derer interessant zu machen, die
sich seit Jahrhunderten unter dem brutalen Joche des Elends windet.

Der Verbrecher aus Gelegenheit, der von den Künstlern häufig,
aber oberflächlich studirt worden, bietet allerdings organische und psychische
Anomalien, die aber weniger ernst und weniger zahlreich als die anderer
Verbrecher sind. Bemerken wir übrigens, dass der vollkommen normale
Mensch weder in der physiologischen, noch in der psychologischen
Ordnung existirt. Die Porträts der mehr oder weniger berufsmässigen
Ehebrecher, schlauen oder ungeschickten Fälscher, Jähzornigen, ge-
schickten Verleumder sind in den Romanen und Comödien, deren
Fabel ebensowenig verschieden ist als die Physiognomien ihrer
Helden, allerdings überreich vorhanden; doch mit wenigen Ausnahmen
fehlt es ihnen an Vertiefung. Es gibt in dem Verbrecher aus Ge-
legenheit keine genügenden psychologischen Contraste, um eine ent-
scheidende, sorgfältige und einschneidende Analyse vornehmen zu
können. Er gehört in der That der zahlreichen Mittelmässigkeit der
antisocialen Welt an. Unentschlossen zwischen Laster und Tugend
schwankend, geht er von einem zur anderen, je nach den geringsten
Antrieben seines Milieus, und seine unklare Moralität ist unfähig, dem
Köder der Versuchungen zu widerstehen. Für ihn scheint die be-
rühmte Hypothese Jean Jacques Rousseau’s wie geschaffen. »Wenn es,

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 140, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-04_n0140.html)