Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 141
Die psycho-anthropologischen Typen der Verbrecherwelt (Ferri, Professor Enrico)
Text
um der reiche Erbe eines Mandarinen zu werden, den man nie ge-
sehen, von dem man nie etwas gehört hat und der im tiefsten Hinter-
grunde Chinas wohnt, genügte, auf einen Knopf zu drücken, um ihn
sterben zu lassen, wer von uns würde wohl nicht auf den Knopf
drücken?«
Die Kunst, welche von der Darstellung der Gefühle lebt, hat
das Studium der Verbrecher aus Leidenschaft nie vernachlässigt. Die
Künstler haben mit sympathischer Theilnahme frappante und übrigens
leicht zu erfassende Contraste zwischen dem grausamen Verbrechen
und der verhängnissvollen, oft entschuldbaren oder sogar erhabenen
Leidenschaft herausgefunden, die in einem psychologischen Sturme ein
menschliches Geschöpf zum Verbrechen treibt und solide oder so
ziemlich der durchschnittlichen Solidität sich nähernde Moralität zer-
stört. Und unsere Aufmerksamkeit, die naturgemäss von der geheimen
Ueberzeugung, dass wir in gleichen Fällen ebenso handeln würden, nur
noch geschärft wird, bietet den vielfachen Inspirationen der Kunst un-
aufhörlich neue Nahrung.
Es gibt fast nichts Anormales in dem Menschen, der aus Liebe
zum Mörder wird, besonders wenn er seinem eigenen Leben ein Ziel
setzt, noch in dem durch das Verlassen des Verführers verursachten
Kindesmorde, in der bis zur Tödtung gehenden berechtigten Eifersucht,
in der offenen Empörung gegen eine für reiche Schurken nachsichtige
und gegen die zahllosen Märtyrer der täglichen und erzwungenen Arbeit
mitleidslosen Gesellschaft, in dem Manne, der die Ehre seiner Familie
oder die grausam verletzte Kindesliebe rächt. Eine schwache Anomalie
genügt, um diese Verbrechen hervorzubringen; eine zu grosse Empfind-
lichkeit, eine allzu heftige Impulsivität, die von einer übertriebenen
Reizbarkeit des Nervensystems herrührt. Denn der Mann, der sich
wirklich im Besitze des geistigen Gleichgewichtes befindet, kommt nur
bei der unvermeidlichen Nothwendigkeit, sich vertheidigen zu müssen,
zur mörderischen Gewaltthat, dieser Mann kann ein Pseudoverbrecher,
nie aber ein wirklicher Verbrecher sein.
Der Verbrecher aus Leidenschaft befindet sich sehr häufig in der
Vollkraft der Jugend, in dem Alter, in dem die Leidenschaften vor-
herrschen. Er hat ein regelmässiges und tadelloses Leben geführt, er
ist von friedlichem Charakter; — der aus Essig hergestellte Wein ist
der stärkste, sagt ein toskanisches Sprichwort. Seine träumerische und
romantische Sentimentalität hat mit der Prosa des zeitgenössischen Typus
nichts gemein. Er hat ein Ideal; er vegetirt nicht einfach, wie der ge-
wöhnliche Volksmensch, in der Sclaverei der Fabrik oder des Acker-
baues oder in der bureaukratischen Grabesruhe eines elend-friedlichen
Lebens oder in einer unaufhörlichen Jagd nach Geld in den Ueber-
raschungen des Handels und der Speculation und in der fieberhaften
Furcht vor etwaigen Fehlschlägen. Seine Leidenschaften erregen wie
schöne Giftpflanzen den Blick der Menge in der täglichen Chronik und
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 141, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-04_n0141.html)