Text
Von Rainer Maria Rilke.
So ist es immer der gleiche Weg. Von dem geheimnissvollen,
grosssprecherischen »Demnächst« zu dem zaghaften Heute, vor welchem
sich der Vorhang enthüllend hebt. Fast wie bei einer Gerichtsver-
handlung geht es da zu bei den Premieren. Und fast immer führt sich
der Autor nach jedem Act als mildernden Umstand vor, indem er sich
devot verneigt, lächelt und sein Lächeln reden lässt: »Bitte, seien Sie
nur gerecht; richten Sie relativ; wenn ich Ihnen auch nicht viel gebe,
seh’ ich aus, als ob ich mehr geben könnte! Urtheilen Sie selbst!« Pause.
Ecce homo.
Und das Publicum denkt: Ja, in Anbetracht und es klatscht
seinen Freispruch. Es will ihn nicht ans Kreuz. Es ist manierlicher und
auch vorsichtiger als seine Ahnen aus des Pilatus Tagen.
Und am anderen Morgen beginnt der Theaterbericht: »Gestern
war « Und wenn er hier aufhörte, ist das nicht auch ein Urtheil?
Es liegt nahe, von den verschiedenen kleinen Demnächst abzu-
sehen und zu fragen, ob hinter dem ernsten Demnächst des Dramas
als solchem auch ein trauriges »Gestern war« wartet.
Unsere Zeit hat uns eine Fülle neuer Aufschlüsse über die Kunst
vemittelt, und wenn das grosse Geheimniss, dem wir entgegenlauschen,
auch nicht redselig wurde, vielleicht sind wir schweigsamer geworden,
da wir beginnen, es zu verstehen, da wir nicht mehr nach grossen
Stoffen suchen, überhaupt nicht mehr »suchen« und unsere Freude
haben, wenn wir dennoch finden. Und gerade die unscheinbarsten
Funde sind uns die allerliebsten. Das ist eines der mächtigsten Er-
kenntnisse: Alles ist Inhalt und kann etwas bedeuten. Seine Bedeutung
gewinnt es durch die Form, d. h. durch die Art, wie es sich abgrenzt
gegen das Viele und Fremde. Und dem geringsten Stoff seine Seele
zu geben, zu errathen, in welchen Grenzen das Unbedeutende ein
Ganzes und somit ein Ereigniss wird, dem tiefsten, niemals geoffen-
barten Willen des Stoffes Erfüllung zu schenken, das scheint mir im
Augenblicke die erlösende Aufgabe des Künstlers zu sein. Ist dem so,
dann gewinnt aber auch die Form eine seltsame Wichtigkeit. Sie ist
dann das eigentlich Intime, das Aufrichtige an dem Kunstwerke. Und
ein Werk muss bedeutend an Werth einbüssen, welches dem Zufall
und der Willkür irgendwann Antheil an der Bestimmung seiner äusseren
Gestalt gewährt, jenem Werke gegenüber, bei dem jede Biegung und
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 143, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-04_n0143.html)