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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 144

Text

144 RILKE.

jede Bucht der Grenzlinie eine Offenbarung der Liebe und der Sehn-
sucht des Künstlers ist. Das Drama gehört nicht zu dieser letzten Art.
Noch unerstarrt, wie ein weiches Thonbild, gleitet es dem Dichter aus
den Händen und wird von der nachrathenden Willkür und dem will-
kürlichen Verständniss der Vielen zu Ende geknetet. Unter besonders
günstigen Umständen ist es ja möglich, dass der Dichter die Gruppe
von Menschen und die Menge der Geräthe, welche der Materialisation
seines Spieles dienstbar sind, so souverän beherrscht, dass seine Absicht
endlich ziemlich klar zum Ausdruck kommt; aber dazu gehört eine
andere Begabung als die des Poeten; diesem fehlt meistens das Ueber-
schauen der Dinge, das zum Werkzeug Herabzwingen der Menschen,
das rücksichtslose Knechten fremder Willen, welches grossen Feldherren
siegen hilft. Und wenn Einer alles das besässe und seiner Persön-
lichkeit Ausdruck gäbe in Menschen wie in grossen Lettern, die in-
dividuelle Form des Werkes wäre doch nur für einen Abend bestimmt;
und die Nachbarbühne könnte vierundzwanzig Stunden später, selbst
unter der Leitung guter Regisseure, kaum eine leise Familienähnlichkeit
in die Züge desselben Dramas legen. Dieses Flüchtige, Vorübergehende
gibt dem Werke das Aussehen einer Improvisation und den Rang
einer solchen.

Was dann als dauernd aufbewahrt wird, ist meistens — ein Buch
zu viel, welches ganz hilflos bleibt, so lange nicht einmal wieder Men-
schen und Farben und Lichter sich seiner annehmen. Und wenn man
zwei solche Bücher vergleicht, eines von vor 50 Jahren und eines von
heute, da fällt zunächst auf: die Bemerkungen im Texte sind ganz
bedeutend angewachsen und stellen tausend oft kaum vom Mimen er-
füllbare Anforderungen; dagegen ist der Text selbst klein und kurz
geworden, die Dialoge sind von der Lebendigkeit der Stychomythie,
die Monologe fehlen und die Ensemblescenen haben nicht mehr die
monotone Geschwätzigkeit des Operettenchors. Das Erstere begründet
sich in dem oft unbewussten Streben des Dichters, dem unvollendeten
Werke recht viel eigenes Zeug mit auf den Weg zu geben, damit die
fremden Hände es verständig anfügen könnten. Die Kürze des Textes
aber rührt daher: die modernen Dichter haben den Glauben an das
Wort verloren. Das Publicum hat noch immer die Ueberzeugung, dass
im Wort die Steigerung, der Fortschritt, die Katastrophe läge, oder
doch, dass dieses das äussere Zeichen dafür wäre. Der Dichter er-
kannte längst so: das Schweigen ist das Geschehen, das Wort die
Verzögerung. Und er denkt dabei an das Wort, wie es als gebräuch-
liche Währung gilt im Tauschverkehr des Lebens. Sein Wort z. B. in
der Lyrik, welches sich selbst Hintergrund und Glanz und Tiefe geben
muss, hat ja nichts mit dieser Scheidemünze gemein, aber sein Wort
im Drama, welchem die vielen dienstbereiten Dinge alle Pflichten ab-
nehmen, ist schliesslich ganz dasselbe Tauschmittel des Alltags. Und
an dieses Wort glaubt er ja nicht mehr. Er weiss, es kann keine
Katastrophen bedeuten, es kann zwischen zwei Menschen weder Glück,
noch Feindschaft stiften, weil es sich zwischen ihnen aufbaut wie eine

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 144, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-04_n0144.html)