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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 145

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DEMNÄCHST UND GESTERN. 145

Wand. Es ist die Holzklapper des Aussätzigen, welche warnt: Platz!
ich nahe! Platz! ich nahe! Und Jeder flieht tief in sich selbst und
klappert auch.

Und so sind wir Ganzeinsame. Jeder für sich. Und sobald wir
dieses einsehen, erkennen wir, wie undramatisch wir sind. Wie es nur
vor dem grossen und leichtgläubigen Publicum möglich ist, zu be-
haupten, zwischen den Menschen auf der Bühne bestände ein Zu-
sammenhang, ähnlich dem im Leben.

Wir leben ja so leise, und unsere grössten Katastrophen sind in
uns so tief, dass nur ihre letzten Wellen an unsere Oberfläche rühren.
Und wollte Einer dennoch ein Drama schreiben aus unserem echten
Erleben heraus, die Schauspieler würden gerade seine erschütterndsten
Enthüllungen offenbaren, wenn das Publicum glaubt: aber sie rühren
sich ja gar nicht.

Schon jetzt beginnen die Dichter, sich zu verrathen. Es gibt
Schweigsamkeiten in ihren Stücken, welche das Publicum gerne durch
sein Lachen belebt. Und da das den Autoren unbequem ist, begnügen
sie sich mit alten Formen und schreiben wieder Märchen und realisti-
sche Stücke und beides durcheinander. Das Publicum glaubt daran.
Es wird noch lange daran glauben, und so lange wird es Dramen
geben.

Aber wenn es möglich ist, dass die leisen und heimlichen Er-
kenntnisse, welche in den Einsamen sich vorbereiten, einmal das un-
bewusste Wissen der Menge werden, wird auch in ihr kein Bedürfniss
mehr wach sein nach einer Kunst, die ihre Vollendung nicht von den
Händen des Schöpfers, sondern von hundert rohen Zufälligkeiten
empfängt. Sie wird empfinden, dass ein Kunstwerk immer nur einem
Einzelnen gehören kann, nicht zugleich einer bunten Menge, drin
andere Augen hat, andere Ohren und eine nach Anderem hungernde
Seele. Ist das bald?

Es werden noch viele Dramen geschrieben werden bis dahin.
Auch viele gute; denn auch ein unreifes Bedürfniss kann schön be-
friedigt werden. Und wenn die Dichter aufrichtig sind, kann vielleicht
gerade auf diesem leicht zugänglichen Wege die Lehre von dem leisen
Leben unter die Menge kommen. Dann hat das Drama noch eine
grosse und reiche Pflicht zu erfüllen, ehe hinter seinem letzten »Dem-
nächst« das abschliessende »Gestern war —« steht.


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 145, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-04_n0145.html)