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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 6, S. 230

Text

UHDE’S CHRISTUS.
Von Rainer Maria Rilke (Wilmersdorf bei Berlin).

Im Sommer 1897 stand plötzlich in mehreren Zeitungen: »Die
Münchener Pinakothek wird Uhde’s ‚Himmelfahrt‘ ankaufen, nachdem
der Künstler sich entschlossen hat, einige Aenderungen am Bilde vor-
zunehmen. Dann schlugen verschiedene Blätter in wüthender Ent-
rüstung auf diese letzte Behauptung los, so lange, bis sie mause-
todt schien. Aber sie that wohl nur so; denn in der Weihnachtswoche,
als alle Welt Hände und Herzen voll anderer Dinge hatte, ging sie
leise, aber vollkommen gesund durch die Kunstnachrichten. Es ist
doch seltsam; eine Aenderung so ganz rasch, ganz willig, ante portas.
Man stellt sich unwillkürlich vor, wie Herr v. Uhde, ohne den
modernen Winterrock und den tadellosen Cylinder abzulegen, in der
Barerstrasse, ungestört durch Trambahn und Droschken und die Neu-
gier der Vorübergehenden, »einige Aenderungen« vornimmt. Und dann
rasch ins Thor zu den Overbeck und Schnorr und anderen Brüdern
in Christo. Und nun fällt einem auch von ungefähr ein, worauf die
Aenderung ante portas sich bezogen haben kann, natürlich auf etwas
rein Aeusserliches. Das Bild ging nicht durchs Thor, gewiss. Ich habe
zwar die Thorflügel ziemlich mächtig in Erinnerung und kenne auch
die »Himmelfahrt«, aber man irrt sich ja bekanntlich immer in den
Dimensionen. Also Herr v. Uhde muss wohl rundherum einen Streifen
Leinwand abgetrennt haben. Das ist klar: es kann doch Bilder geben,
welche zu gross sind für eine königliche Pinakothek.

Warum mir das nicht gleich eingefallen ist? Im November des
vergangenen Jahres
habe ich das Bild in Herrn v. Uhde’s Atelier
gesehen, und Bilder, unfertig, ungerahmt, sehen ja stets kleiner aus
— und später im Glaspalast — da hab’ ich immer gethan, als säh’
ich’s nicht.

Nur manchmal, wenn ich ganz einsam war im Rotundensaal (es
war ja oft einsam im Glaspalast), dann hab’ ich mich wohl davor nieder-
gesetzt und — die Augen geschlossen und gedacht, wie es doch da-
mals im Atelier war.

Stellen Sie sich einmal vor: eine Gruppe von Menschen, nicht
von Bauern und nicht von Gebildeten, einfach von Menschen, Greisen
und Kindern, Männern, Jungfrauen und Frauen. Und denken Sie:
diese Gruppe zusammengezwungen, geeint und gemeinsam durchzuckt
von einer Sensation. Und auf allen Gesichtern in feiner Abstufung
die Wirkung von etwas Grossem, Unglaublichem: bei den Greisen: Er-
staunen, bei den Frauen: Entzücken, bei den Jungfrauen: Verklärung

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 6, S. 230, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-06_n0230.html)