Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 6, S. 232

Text

232 RILKE.

ist nicht ganz schuldig daran. Denn er kann nicht dafür, dass die
streng protestantische Adelsfamilie ihn in diesen Begriffen erzogen hat,
und es ist wenig seine Schuld, dass kein brutaler Ruck in seinem
Leben ihn aus diesen sicheren Geleisen gerissen hat. Er ist in diesen
Grenzen ganz gewiss ein ausgezeichneter Mensch geworden und ein
tüchtiger Maler nebenbei. Das Alles freilich nicht deshalb, sondern —
trotzdem. Und er hat eines vor Allem: ein gutes Herz. Abgöttisch liebt
er seine Kinder und mit und in ihnen alle Kinder. »Das Heiden-
prinzesschen« und die anderen Kinderbilder, von denen er mir lächelnd
sagte, das mache man so nebenbei, verrathen ihn. Und mir will es gar
bezeichnend scheinen, dass das erste seiner sogenannten »Christusbilder«
heisst: »Lasset die Kleinen zu mir kommen« und dass von den folgenden
gerade die die besten sind, in denen Kinder irgendwie eine Rolle
spielen. Ueber die Trefflichkeit des ersten aber ist er nie hinaus-
gekommen. Dieses erste war ein Geständniss des Vaters, alle folgenden
sind mehr oder weniger Zugeständnisse an das Publicum. In dem
»Lasset die Kleinen zu mir kommen« war dem Meister darum zu thun,
den Wünschen und den Träumen dieser Kinder einen gemeinsamen
Mittelpunkt zu geben, ein paar reiche und gütige Hände zu schaffen,
welche dem zaghaften Fragen und Suchen dieser hilflosen Händchen
sich entgegenstrecken, eine Lippe, die Trost und Antwort geben kann
den tausend unbegrenzten und unbescheidenen Kinderfragen und ein
Auge, hell genug, um diesen Allen eine liebe Heimat zu sein, welche
aus dem vielen Dunkel kommen. Einen Vater ihnen zu schenken ohne
die Sorgen, ohne das Alter und ohne den Zorn des Vaters, kurz, eine
Erfüllung für die tiefsten und heimlichsten Sehnsuchten der kleinen,
erwachenden Seelen. Und dies zu können, brauchte der liebevolle Ver-
steher nur in den Herzen seiner Lieblinge zu lesen und ihnen aus den
gläubigen Augen das Bild ihres Entzückens zu holen und getreu, Strich
für Strich nachzuzeichnen. So hat er damals gethan, und es wurde
eine Gestalt der Liebe und des Erbarmens, eine lichte, wartende Zu-
flucht dieses ganzen Kinderschwarms. Dass dann später der con-
ventionelle Glaube des Herrn v. Uhde nachdenklich vor diesem trauten
Kinderfreund zögerte und ihn »Jesus« nannte, hat mit der Sache so
wenig zu thun als eben der zufällige Name mit der Wesenheit. Aber
dem Publicum war es die Hauptsache, denn es fand die Sensation
gerade darin. Das war ein Christus nicht im gewohnten Costüm und
Gehaben, er war aber auch nicht aus dem Heute, er war einfach —
zeitlos. Das Publicum fand schnell darüber fort; die Kleider der Kinder
sahen ja so ungefähr zeitgemäss aus, und da sonst keine nachweisbare
Jahreszahl oder sonstige historische Reminiscenz es hinderte, war seine
Eitelkeit unverzüglich bereit, diesen Christus in einem gewissen Ueber-
legensein für die eigene Gegenwart mit Beschlag zu belegen. So hatte
Herr v. Uhde ganz ohne Absicht mit einem Schlag den neuen Typus
des »modernen« Christus geschaffen, den man nun von ihm verlangte
in allen Nuancen und Verhältnissen. Dem Publicum war es einfach
natürlich, von dem Künstler nun die Geschichte Christi zu erwarten,

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 6, S. 232, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-06_n0232.html)