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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 6, S. 240

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240 NOTIZEN.

losen Folterungen in Spanien ge-
hört, wer erinnert sich noch dieser
Ungeheuerlichkeiten? Nein, das Mit-
leidsmoment ist es nicht, was in
ganz Europa diese elektrische
Spannung erzeugt. Das Mitleid ist
eine inspirative Empfindung. Wer
würde es vermögen, drei Jahre
lang ein und derselben Affaire sein
Mitleid zu schenken? Was uns an
dieser Affaire Dreyfus so nervös
macht, das sind die fortwährenden
überraschenden Ausreden, Aus-
flüchte und Verlegenheiten der
französischen Generalität und ihrer
Minister. Man hat Dreyfus auf
Grund eines Bordereaus verurtheilt;
ein einzelner Mann, Bernard La-
zare, hat die Existenz dieses Bor-
dereaus bezweifelt. Heute weiss
ganz Frankreich, dass dieses Bor-
dereau keinesfalls die Grundlage
des Processes war. Man hat sich

auf ein mündliches Geständniss des
»Verräthers« berufen. In die Ecke
gedrängt, erklärt Herr Méline,
dieses Geständniss existire, aber
es müsse geheim bleiben! Dazu
diese bedenkliche Parodie des
Esterházy-Processes, diese hinter-
hältige Anklageschrift gegen Zola
Jede Erklärung der Regierung
scheint in ihrer geschickten Vor-
sicht wie von einem spitzfindigen
Advocaten verfasst. Wie Raskolni-
kow nach dem Morde, so schleicht
diese Clique herum, voll juridischer
Spitzfindigkeiten, voll ethischer Vor-
wände, voll mühseliger Alibibeweise,
aber mit dem zweifellosen
Bewusstsein ihrer Schuld
!
Trotz aller grossmäuligen, pratioti-
schen Banalitäten — — — dein
Sibirien kommt näher
, Ras-
kolnikow
!

St. gr.



Herausgeber: Gustav Schoenaich, Felix Rappaport.

Verantwortlicher Redacteur: Gustav Schoenaich.

Ch. Reisser & M. Werthner, Wien.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 6, S. 240, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-06_n0240.html)