Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 7, S. 255
Text
Von Nina Hoffmann (Wien).
(Schluss.)
Fertigt Dostojewsky im Process der Kairowa den bestellten An-
walt mit wuchtigen Hieben ab, wie sie dem plumpen Vertheidiger zu-
kommen, so gestattet er sich Herrn Spassowič gegenüber, dem Anwalt
Kroneberg’s im Processe dieses Namens, ein ausgesucht feines Spiel
mit spitzen und scharfen Waffen. Hier hat er es mit einem geschickten
und feinen Kopfe zu thun, dessen unscheinbaren, die Wahrheit und die
Stimmung gleichsam unterminirenden Wendungen er auflauert, um sie
zu widerlegen, vor Allem unschädlich zu machen.
Der Dichter bringt diesen Process in extenso, dessen Inhalt, so-
weit er sich auf Anklage und Urtheilsspruch bezieht, uns weniger be-
schäftigen muss als der leidenschaftliche Feldzug gegen eine feine aber
um so gefährlichere Vertheidigungstaktik. Wir citiren in Kürze des
Dichters ersten Bericht über den Fall:
»Ich denke, Alle kennen den Process Kroneberg, welcher vor
einem Monate im Petersburger Kreisgerichte durchgeführt worden ist,
und Alle haben wohl die Berichte darüber in den Tagesblättern ge-
lesen. Die Sache ist höchst interessant, und die Berichte darüber waren
besonders aufregend! Da ich mich um einen Monat verspätet habe,
werde ich sie nicht mehr im Detail aufnehmen, fühle aber das Be-
dürfniss, aus diesem Anlass auch mein Wort zu sagen.«
»Ich bin durchaus kein Jurist, allein hier hat sich von allen Seiten
so viel Falsches gezeigt, dass es auch für einen Nichtjuristen augen-
scheinlich wird. Solche Dinge springen sozusagen ganz unvermuthet
heraus und verwirren nur die Gesellschaft, ja, wie es scheint, sogar die
Richter. Da sie aber dabei allgemeine, ja die kostbarsten Interessen
berühren, so ist es begreiflich, dass sie uns ans Leben greifen, und
dass es manchmal unmöglich ist, nicht von ihnen zu sprechen, wenn
auch ein Monat darüber vergangen wäre, d. h. — eine ganze Ewigkeit.«
»Ich erinnere an den Fall: Ein Vater hat sein Kind, sein un-
eheliches, siebenjähriges Töchterchen, allzu grausam zugerichtet; nach
der Anklage hat er sie auch schon früher äusserst hart behandelt.
Eine fremde Person aus dem Volke konnte die Wehklagen des ge-
marterten Kindes nicht mehr ertragen, das (der Anklage nach) eine
Viertelstunde lang unter den Ruthenstreichen: ‚Papa, Papa!‘ schrie;
die Ruthe aber war nach dem Zeugniss eines Experten keine Ruthe,
sondern eine ‚Spitzruthe‘, d. h. etwas für ein siebenjähriges Kind ganz
Unmögliches. Uebrigens lag sie auf dem Gerichtstisch unter den Beweis-
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 7, S. 255, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-07_n0255.html)