Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 7, S. 256
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materialien, und Alle konnten sie sehen, sogar Herr Spassowič. Die
Anklage erwähnte u. A. auch das, dass der Vater, als man ihn vor dem
Schlagen auf ein Aestchen aufmerksam machte, das man doch wegbrechen
solle — erwiderte: ‚Nein, das wird noch mehr Kraft geben.‘ Es ist auch
bekannt, dass der Vater nach der Züchtigung fast in Ohnmacht fiel.«
»Ich erinnere mich auf den ersten Eindruck, den die Nummer des
‚Golos‘ auf mich machte, wo ich den Beginn der Sache, ihre erste
Darstellung las. Das geschah um die zehnte Abendstunde, ganz un-
vermuthet. Ich war den ganzen Tag in der Druckerei gesessen und
hatte den ‚Golos‘ nicht früher durchsehen können, wußte auch nichts
von dem Auftauchen dieser Sache. Nachdem ich gelesen hatte, ent-
schloss ich mich, mich um jeden Preis, ungeachtet der späten Stunde,
noch am selben Abend über den Gang der Sache zu unterrichten, da
ich vermuthete, dass sie etwa bei Gericht schon abgeschlossen sein
konnte, und zwar an diesem Tage, einem Samstag, und wusste, dass
die Tagesblätter immer verspätet erscheinen. Ich kam auf den Ge-
danken, sofort einen allgemein gekannten, wenn auch mir persönlich
sehr wenig bekannten Mann aufzusuchen, da ich nach einigen An-
zeichen schloss, dass ihm eher als meinen anderen Freunden der Aus-
gang des Processes bekannt sein müsse, und dass er wohl selbst dort
gegenwärtig gewesen sei. Ich hatte mich nicht geirrt. Er war dort
gewesen und eben erst heimgekommen. Ich traf ihn um die elfte
Stunde schon zu Hause an, und er theilte mir die Freisprechung des
Angeklagten mit. Ich war empört gegen den Gerichtshof, die Geschwo-
renen, den Vertheidiger. Heute sind drei Wochen seither verflossen,
und ich habe meine Meinung in vielen Stücken geändert, nachdem ich
selbst alle Zeitungsberichte gelesen und manche schwerwiegende Ur-
theile Unbetheiligter angehört habe. Ich bin sehr froh darüber, dass
ich den unter der Anklage stehenden Vater nicht mehr zu den Böse-
wichtern, den Liebhabern kindlicher Qualen (es gibt solche) rechnen
muss, und dass es sich hier hauptsächlich um ‚Nerven‘ handelt, und
dass er nur ein ‚schlechter Pädagoge‘ ist, nach dem Ausdrucke seines
Vertheidigers. Ich will hauptsächlich auf gewisse Unwahrheiten in der
Rede des Advocaten hinweisen, um damit um so klarer zu zeigen, in
welche schiefe und alberne Lage mancher angesehene, talentvolle und
ehrenhafte Mensch gerathen kann, einzig und allein durch das Falsche
in der Unterlage der ganzen Sache.«
Wir übergehen die Auseinandersetzung dieser falschen Unterlage
und führen nur einige markante Stellen der Polemik an:
»Schon bei den ersten Worten seiner Rede,« sagt Dostojewsky,
»fühlt ihr, dass ihr es mit einem Talente ersten Ranges, erster Kraft
zu thun habt. Herr Spassowič deckt sich von vornherein ganz auf und
zeigt den Geschworenen selbst die schwache Seite der von ihm unter-
nommenen Vertheidigung, zeigt auf seine schwächste Stelle, jene, die
er am meisten fürchtet.« Er sagt:
»Ich fürchte mich, meine Herren Beisitzer, nicht vor dem Urteils-
spruch des Gerichtshofes, nicht vor der Anklage des Staatsanwalts
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 7, S. 256, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-07_n0256.html)