Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 7, S. 257
Text
ich fürchte mich vor einer abstracten Idee, vor einem Gespenst, ich
fürchte mich deshalb, weil das Verbrechen, wie es betitelt ist, ein
schwaches, schutzloses Geschöpf zum Gegenstande hat. Schon das Wort
allein: ‚Die Marter eines Kindes‘ erweckt erstens ein Gefühl tiefen
Mitleids mit dem Kinde, zweitens aber ein ebenso starkes Gefühl der
Entrüstung gegen Jenen, der des Kindes Peiniger war.«
»Das ist sehr geschickt,« fährt Dostojewsky fort, »eine ungewöhn-
liche Offenheit. Der Hörer, der schon mit gesträubten Federn dasitzt
und sich schon dazu vorbereitet hat, unbedingt etwas sehr Schlaues,
Gewandtes, eine Prellerei anzuhören, und der sich eben gesagt hatte:
‚Na, Bruder, wir wollen sehen, wie du mich jetzt anführen wirst‘ —
wird plötzlich von dieser Schutzlosigkeit des Menschen gepackt. Der,
den man früher als Schelm dachte, sucht selbst nach einem Schutz,
ja noch dazu bei euch selber, die anzuführen er sich vorgenommen
hatte! Mit dieser Taktik bricht Herr Spassowič mit einem Schlag das
Eis des Misstrauens und filtrirt sich, wenn auch nur mit einem Tröpf-
lein, in euer Herz hinein.«
»Es ist wahr, er spricht von einem ‚Gespenst‘, sagt, dass er
sich nur vor einem ‚Gespenst‘, das heisst, fast vor einem Vorurtheil
fürchte. Ihr habt noch nichts weiter gehört, aber ihr schämt euch
schon, dass man euch unbilligerweise für Menschen mit Vorurtheilen
halten werde. Nicht wahr? Sehr geschickt.«
Der nächste Einwurf Dostojewsky’s ist gegen den Gebrauch des
Wortes »Ruthe« anstatt eines scharfen Ruthenbündels. Darauf der
Hinweis auf das Wort »Strafe«, das der Vertheidiger anstatt des Wortes
»Marter« anwendet, wobei er sich über das pro und contra körper-
licher Strafen ergeht. Im weiteren Verlaufe appellirt der Advocat an
das tiefere Verständniss der Geschworenen für die lasterhafte Natur
des Kindes und das nervöse Temperament des Vaters. »Wenn wir, die
Geschworenen, erst einmal in die Sache eingehen,« interpretirt der
Dichter den Wiederhall dieser Rede, »so werden wir Euch freisprechen,
denn ein tieferes Verständniss führt zum Freispruch« — so sagt er
ja selbst. Das tiefe Verständniss aber ist also, heisst es, nur
bei uns, auf unserer Bank. »Auf uns hat folglich das Täubchen so
lange gewartet, hat sich bei allen Richtern und Anwälten abgemüht!«
Mit einem Wort: Schmeichle, schmeichle! Das ist eine alte Routine,
aber eine höchst verheissungsvolle.«
Nun erfährt das Auditorium die ganze Lebensgeschichte des An-
geklagten durch die Rede des Vertheidigers, der mit vollendeter Ge-
schicklichkeit die allerkleinsten Züge zusammenträgt, um das Interesse
für den Vater zu steigern, jenes, das man dem Kinde entgegenbringt,
abzuschwächen, kurz durch Stimmung zu wirken. Dostojewsky zerpflückt
nun Satz um Satz, ja fast Wort für Wort die einzelnen Wendungen
des geschickten Advocaten sowohl da, wo er etwas hervorhebt, als
da, wo er abschwächt und fallen lässt, und schliesst mit den Worten:
»Mir steht jetzt immer eine junge Schule vor Augen, welche den Geist
gewandt macht und das Herz austrocknet, eine Schule der Verdreht-
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 7, S. 257, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-07_n0257.html)