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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 7, S. 262

Text

DIE KRITIK.
Von Ernest Hello.*)
Uebersetzt von Stauf V. D. March.

Die Kritik! Unzweifelhaft habt ihr schon etlichemale dieses Wort
vernommen. Ob aber der, der es aussprach, den Sinn desselben erfasst
hat? Ich glaube nicht. Es gibt wenig Worte, die so verkannt werden.
Wenn im heutigen Paris eine literarische Kritik existirte—: binnen acht
Tagen wäre die Physiognomie der Welt verändert.

Die Kritik, wie man sie gegenwärtig zum weitaus grössten Theile
prakticirt, ist ein mattes Gesalbader und thut nach Wunsch und Willen
Jedem, der nicht zu reden versteht, noch es überhaupt kann, noch sich
dessen getraut. Monsieur Paul, der Kritiker, kennt Monsieur Peter,
den Schriftsteller; es ist nöthig, dass er ihn schonend behandle, mag
nun Monsieur Peter das oder jenes thun. Ausserdem wird Monsieur
Peter von Monsieur Kunz bewundert: ergo fühlt sich Monsieur Paul
gedrängt, ihn auch zu bewundern. Ueberdies leidet Monsieur Paul
Mangel an dem, was er ansonst formuliren würde: er hat nicht Ge-
danken, noch Styl, weder Geist noch Gemüth, ja nicht einmal einen
Gesichtskreis. Und so gelangt er denn einfach zum Schluss, dass
Monsieur Peter ihm selber gleiche, und — beklatscht ihn deshalb.
Oder noch besser: Monsieur Paul hat in seiner Jugend irgend welches
Buch eines alten und bekannten Autors gelesen; seitab kann sich
Monsieur Paul vor Lob über das Werk nicht fassen und hält es den
Schriftstellern der Zukunft als Muster vor. Monsieur Paul ist fest über-
zeugt, dass alle Bücher, die er in seinen jungen Jahren gelesen, heilig
seien, dass ein höher organisirter Mensch nicht mehr das Recht habe,
auf die Welt zu kommen, und dass der Weltschöpfer in Folge seiner
früheren Arbeiten erschöpft sei. Nach Buffon und Montesquieu, so
glaubt Monsieur Paul, bleibe nichts zu sagen übrig.

Wie oft habe ich, auf Paris niederblickend, im Stillen mir zu-
gerufen: »Du mein Gott, welch’ eine unglückselige Stadt! Was für
verlorene Kräfte arbeiten in deinem Busen!« Während die kalte
Mittelmässigkeit leichthin und guter Dinge Erfolge erringt, suchen


1) Wir veröffentlichen hier die Uebersetzung eines Aufsatzes über »die
Kritik«, den Ernest Hello bereits vor circa einem halben Jahrhundert in Paris
veröffentlicht hat. Hello, der anfangs der Siebzigerjahre starb, ist von der jungen
Generation der Pariser Schriftsteller neu entdeckt worden. Sein Name ist den
jüngeren Franzosen zur Autorität geworden. —

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 7, S. 262, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-07_n0262.html)