Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 7, S. 269
Text
Von Stefan Grossmann (Wien). I.
Toleranz auf geistigem Gebiete wird von manchen gutwilligen
Leuten als eine sittliche Qualität gepredigt. Aber es ist nicht weit her
mit einer Toleranz, welche nur ein gebändigter Fanatismus der
Subjectivität ist. Im entscheidenden Momente werden diese gesitteten
Ueberwürfe und Verschleierungen sehr rasch abgeworfen. Toleranz auf
geistigem Gebiete kann nur eine Eigenschaft des intellectuellen Menschen
sein, welcher der unbedingte Gebieter seiner fanatischen Subjectivität
ist. Entweder bedeutet dieses Wort Toleranz nichts als eine süsse
Schönrednerei oder es ist die: Einsicht in die natürliche Rangordnung
und Stufenleiter der Geister, das Bewusstsein von der nothwendigen
Verschiedenheit der Wirkungskreise jedes Einzelnen.
Wer diese Einsicht gewonnen hat, dem wird das überlegene
Achselzucken, welches die Gebildeten markiren, wenn von Agitatoren
die Rede ist, auch nur als das Symptom einer beschränkten Sub-
jectivität erscheinen. Ich meine, wir haben dem Thema Agitator bisher
viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Es ist im Augenblick für ein
Volk viel wichtiger, was für Agitatoren, als was für Literaten und
Maler es besitzt. Hätten wir vorsichtige, vorsehende Staatsmänner —
wir haben im besten Falle nachsichtige, nachsehende — so würden
sie sich irgendwo in Prag oder Wien Agitatorenschulen gründen,
etwa so, wie man Lehrerbildungsanstalten eröffnet. Vielleicht wären
diese Anstalten um Einiges bedeutsamer als eine ganze Anzahl Militär-
Akademien und Conservatorien.
Bisher nämlich hat man die Agitatoren wild wachsen lassen. Man
hat sich ihrer erst erinnert, wenn sie unbequem wurden. Kein Staats-
mann hat daran gedacht, dass diese Agitatoren die wichtigsten Binde-
glieder zwischen den Classen darstellen, ja, dass man einem ganzen
Volke Culturbewusstsein einimpfen kann, wenn man seine Agitatoren
zu Culturmenschen macht.
Wie sind unsere Agitatoren von heute erwachsen? Irgend ein
Greisler oder ein Wirth hat in seinem Laden während einiger Jahre
fortwährend politische Gespräche führen müssen. Er hat auf diese
Weise die gewöhnlichen, primitiven Bedürfnisse seiner Volksgenossen
kennen gelernt. Tritt er ins öffentliche Leben, so redet er wie jene
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 7, S. 269, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-07_n0269.html)