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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 7, S. 270

Text

270 GROSSMANN.

tausend Leute, deren Bekannter er ist. Der gewöhnliche Agitator, das
ist der Repräsentant von Tausenden, die ihm gleichen. Man mag über
seine Zurückgebliebenheit den Kopf schütteln, aber sind wir nicht
Anhänger des Repräsentativsystems? Dieser Agitator ist nur ein Organ,
ein Sprachrohr. Das macht seinen Werth und seine Lebenskraft aus.
Niemand glaube, dass diese Rolle eine sehr angenehme ist. Indem der
Agitator reussirt, den abgeordneten Repräsentanten seiner Volksgenossen
darstellt, erhöht er sich bereits um eine Stufe. Er bekommt dieses
Culturgefühl von der unsichtbaren Zusammengehörigkeit, Einheitlichkeit
aller Repräsentanten. In diesem Zusammengehörigkeitsgefühl besteht
ja der grösste Werth des Repräsentativsystems. Dadurch wird dem
Agitator viel von seinem frischen Fanatismus genommen. Was thut er?
Er wird zum Schauspieler seines früheren Ich. Der Agitator verkleinert
sich, um in seiner Rolle zu bleiben. Es ist mehr als eine momentane
Laune gewesen, als der grösste Agitator Wiens kürzlich zu einem
jungen Schriftsteller sagte: »Sie wissen gar nicht, wie einsam ich mich
oft in der grössten Versammlung fühle«.

Man hat so oft von der Launenhaftigkeit des Volkes gesprochen.
In Wahrheit sind es die Agitatoren, welche sich zu schnell aus ihrer
rein repräsentativen Aufgabe entwickeln. Der Agitator, welcher bleiben
will, muss sich mit einem Panzer von Entwicklungsfrundlichkeit um-
geben. Er muss von vornherein in seinen Ansichten unbedingt ver-
harren wollen. Weil man seine Entwicklung zwar verleugnen, aber
nicht verhindern kann, deshalb muss der repräsentative Agitator
scrupellos werden. Schliesslich verwächst er mit seiner Maske. Er
vermag es überhaupt nicht mehr, in irgend einer geistigen Einsamkeit
zu leben. In seine letzte, individuellste Einsamkeit stecken hundert
neugierige Parteigenossen ihre Köpfe. Wir vermögen aber alle nur aus
einer geistigen Einsamkeit und Stille heraus zu denken. Diese Ein-
samkeit des Denkens, dieser »Frieden mit dem denkenden Geist« wird
dem Agitator verwüstet, zerstört. Immer hört er das Stimmengewirr
seiner Genossen um sich, und auch in seinen privaten Aeusserungen
kann man das Warten auf ein unhörbares Beifallsklatschen beobachten.
Der Berufsagitator führt immer eine unsichtbare Versammlung mit
sich. »Er getraut sich nicht mehr, allein zu stehen«, lässt Gerhart
Hauptmann einmal eine intelligente Dame über eine agitatorische Natur
sagen, »er muss Massen hinter sich fühlen«.

II.

Es gibt noch eine andere Aufgabe, als die repräsentative, für
den Agitator. In seiner culturellen Eigenschaft hätte er nicht nur eine
Repräsention nach oben, sondern auch eine Repräsentation nach unten
zu besorgen. Er hat nicht nur die Aufgabe, die im Volke vorhandenen
Bedürfnisse herauszusagen, er hat auch die Aufgabe, neue Bedürfnisse
zu wecken. Gewiss, es wird keinem Agitator möglich sein, unorgani-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 7, S. 270, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-07_n0270.html)