Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 7, S. 271
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sche Bedürfnisse zu erwecken. Wenn Jemand auch mit der grössten
Kraft für die allgemeine Erlernung des Violinspieles in allen Classen
der Gesellschaft agitiren würde, so müsste seine Wirkung eine sehr
beschränkte sein. Die Aufgabe des Agitators ist es aber, Bedürfnisse,
die im Volke schlummern, mit besonderem Blick zu erkennen, zu ent-
decken und zu propagiren. Diese Aufgabe ist die langwierigere. Wie
viel alten Schutt, Trümmer von alten Weltanschauungen sind hier
wegzuräumen! Neue, culturelle Bedürfnisse zu erwecken, das ist die
Aufgabe des ethischen Agitators.
Die Prädestinirten für diesen Beruf könnten die jungen Geister
»zwischen den Classen«, z. B. unsere Studenten sein. In allen Ländern,
wo es Ansätze einer nationalen Cultur gibt, sind die Studenten die
Agitatoren dieser Cultur gewesen. Man erinnere sich an die bedeutende
ästhetische Agitation der Pariser Studenten, man denke an die Wirk-
samkeit der russischen Studenten. Die melancholischen Heroen der
Ibsen’schen Dramen, die Ulrik Brendel, Eilert Lövborg, sind verbummelte
Studenten. Individuell genommen, ist das Schicksal des verbummelten
Studenten gewiss ein sehr fatales. Aber von einem Culturstandpunkt
betrachtet, müssen wir bedauern, so wenig verbummelte Studenten
unter uns zu haben. Sie sind in Skandinavien und in Frankreich die
besten »Volkslehrer«, sie haben, ohne specialistische Fachcretins zu
zu sein, einen gewissen, wenn auch oberflächlichen Zusammenhang mit
der Geistescultur eines Landes und propagiren ihn.
Die Gefahr für den ethischen Agitator liegt in der berufsmässigen
Ausübung des Agitirens. Nein, wir brauchen dilettantische Agitatoren!
Genau so wie wir mit fünf Jahren Tramwaykutscher und mit zwölf
Jahren Officier werden wollten, haben wir — dank einer Entwicklung,
welche sinnreicher ist, als der Einzelne weiss — mit zwanzig Jahren
Propheten werden wollen. Während die Gesellschaft aber unsere
Tramwaykutscher- und Officierssehnsucht ignorirt hat, nimmt sie unsere
Prophetensehnsucht ernst. Die Gesellschaft braucht Agitatoren. Der
inspirative Enthusiasmus dieser Jugend soll zur socialen Function
werden. Enthusiasmus als Function! An diese Entwicklung hat Goethe
gedacht, als er schrieb:
»Jeglichen Schwärmer schlagt mir ans Kreuz im dreissigsten Jahre,
Kennt er nur einmal die Welt, wird der Betrog’ne ein Schelm!«
Nichts ist aber irriger als die Ehrlichkeit jener Agitatoren, welche,
müde des Enthusiasmus, statt zu schweigen zu ironischen Agitatoren
werden. Diese entwickelten Naturen werden als Agitatoren für Agita-
toren sehr nützlich sein. Die Massen des Volkes müssen vor Allem
die Stumpfheit verlernen und die Stufen des Enthusiasmus erreichen.
Darf ich hier den ethischen Agitatoren einen Rath geben? Ver-
gesst nicht in der verständlichsten Sprache zu reden! Ihr seid
des rhetorischen Enthusiasmus müde? Wie wäre es, wenn ihr agitato-
risch leben würdet? Verständlicher als lange juridische Auseinander-
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 7, S. 271, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-07_n0271.html)