Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 7, S. 268
Text
urtheilen, was er nicht beherrschen kann. Die allgemeine Würgmethode
ruft die Parteilichkeit hervor, der erhöhte Enthusiasmus weckt die Un-
parteilichkeit, welche den Ruhm des Richters bildet. Enthusiasmus
verleiht Muth, und der Muth hat zwei Accente: Er bewundert das
Schöne und brandmarkt, was es nicht ist.
Wer kann uns im Wagemuth hindern, und was fürchten wir?
Weshalb diese schwachsinnige Achtung, diese Achtung vor
dem Nichtigen? Ist denn diese Erhabenheit des Todes ein unverwund-
bares Recht? Warum das Wort als Monopol Jenen überlassen, welche ver-
wehren wollen, dem Blute zu circuliren und dem Herzen zu schlagen?
Ist es denn möglich, im Interesse der Dummheit und der Gemeinheit
zu schweigen, wenn die Beiden sich verbreiten? Erhebt die Häupter,
ihr, die ihr richtet. Gegen die Kunst, die durch uns geschaffen
worden, erhebt das Haupt zur Vertheidigung! Wozu dient euch die
Waffe, die ihr haltet, wenn ihr kaltblütig die allgemeine Herabsetzung
seht? Unterstützt nicht die Leute, die sich Künstler nennen und die
Angst haben, dass diese Welt noch nicht genügend voll von Schmutz
ist! Sie fügen zur Entwürdigung des wirklichen Lebens die Entwürdi-
gung des imaginären Lebens, durch welches sie uns führen.
Der grosse Kritiker sucht den grossen Dichter wie das Eisen
den Magnet. Fragt nicht, wer von ihnen in der vordersten Reihe
steht; ich stelle sie nicht in die Reihe. Ich verschleiere sie mit der
gleichen Achtung, derselben Bewunderung. Die Kritik ist die Kunst
der höchsten Formen. Der Kritiker befruchtet die Erde und verkündigt
die Gesetze. Er hat den Dichter entdeckt, er krönt ihn. Beide haben
die Prüfung bestanden; beide haben gewagt, gekämpft, gelitten.
Beiden wurde die Ehre zutheil, gleichgearteten Hass zu wecken. Mögen
sie also der gleichen Ehre theilhaftig werden! Erlauben wir ihnen
demnach, dass sie einander begegnen und einander umarmen auf den
Höhen des Wagemuthes und auf den Höhen der Freude. Der, welcher
zu einem unbekannten Schaffenden sagen kann: »Mein Kind, du bist
ein genialer Mensch!« der verdient die Unsterblichkeit, welche er
verspricht. »Begreifen heisst: gleich sein,« sagte Rafael.
Das Feld der Kritik ist breiter, als man gewöhnlich annimmt.
Es ist nicht begrenzt durch die Cultur dieses oder jenes Baumes, die
Natur ist ihr Reich. Sie soll allenthalben sein, wo der Grösse Gefahr
droht. Sie hat das Cap der guten Hoffnung mit Vasco da Gama über
schritten. Alle Accente, alle Harmonien sind ihrer Sprache erlaubt, es
ist ihr gestattet, zu lieben, es steht ihr frei, zu unterstützen. Sie stand
neben Christoph Columbus auf der Brücke des verheissenden Schiffes,
bevor der Ruf erscholl: »Land, Land!« Sieh’ da, dies ihr rechter Ort!
siehe, ihre Arbeit, ihre Bestimmung, ihr Ruhm. Die Wahrhaftigkeit!
Die Wahrhaftigkeit, dies ihre triumphirende Devise. Die Wahrhaftigkeit,
das ist die vom Enthusiasmus eroberte Position. Die Kritik soll wahr-
haftig sein wie die Nachwelt und in der Gegenwart das Wort reden
der Zukunft.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 7, S. 268, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-07_n0268.html)