Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 7, S. 267

Text

DIE KRITIK. 267

Wisst ihr nicht, dass der Künstler, der schaffen will, immer auf
das Entsetzlichste leidet? Meint ihr, er realisire niemals, was er
realisiren möchte? Glaubt ihr, dass jedes grosse Kunstwerk ein noth-
wendiges Opfer ist? Denkt daran, dass jeder grosse Künstler eine
Schlacht schlägt mit der Gewissheit, sie zu verlieren, dass er dazu
verurtheilt ist, nicht immer sein Ziel zu erreichen — sein Ziel, das
die absolute Schönheit ist, welcher zu folgen ihm auferlegt ist, und
welche in seinem Werke zu erreichen ihm verboten ist? Ein Leben
zu geniessen und zu fragen, ob wir es nicht ohne Nutzen leben; sein
Werk anzufangen und daran zu zweifeln; Alles fürchten zu müssen und
hinzuschreiten, als ob man gar nichts fürchte! Die Inspiration erfordert
Glück, und es gibt doch Männer, die in Trauer, in Nacht, in Schmerzen
gearbeitet haben, die ihrer Zunge Schweigen auferlegt, die ihrer Leiden
nicht achteten, um nicht schal zu werden, welche schufen, weil sie
schaffen wollten, auch wenn sie sich nicht darnach sehnten.

Ein grosser Künstler würde übrigens umsonst versuchen, sich
ringsum auszuarbeiten. Seine Freuden sind nicht von dieser Welt. Er
muss die eisigen Landschaften der Verlassenheit durchwandeln.

Und wenn ihn die kleine Kritik von Weitem sieht, sticht sie
ihn (ich anerkenne es gerne, dass sie nicht weiss, was sie thut) mit
tausend Nadeln, um indess zu beobachten, wie viele Tröpfchen Blutes
zu vergiessen ihm wohl noch übrig bleiben.

Ihr begreift also die erhabene Aufgabe, welche einer wahren
Kritik zugewiesen ist? Sie muss genügend gross sein, um eine
Trösterin zu werden. Sie muss das Feld des Lebens betreten, sie muss
mit der einen Hand die kalte Rechte des einsamen Wanderers er-
greifen und mit der anderen ihm den Blick der Menschen zeigen. Sie
muss vollauf den Wagemuth haben, hier zu bewundern, dort auf den
Pranger zu stellen. Sie muss mit Hohn und Spott die Heerde über-
häufen, die in Folge ihrer Folgsamkeit gegenüber den sie führenden
Blinden und in Folge ihres Widerwillens gegen die, welche den Tag
sehen, stupide Schafheerde.

Das erste Wort des mittelmässigen Menschen, der da urtheilt,
bezieht sich immer aufs Detail, und dieses erste Wort ist immer falsch
— selbst wenn es der Wahrheit entspräche. Es ist falsch in Hinsicht
auf den Platz, den es einnimmt, falsch in Bezug auf die Wichtigkeit,
die man ihm zuschreibt, falsch durch die Hartnäckigkeit, worin es
verbleibt. Gleich als ob es alles Andere ausschlösse, was es nicht sagt;
gleich als ob es Nichtiges für wichtig und Wichtiges für nichtig halten
würde.

Der wahre Kritiker stellt sich genügend hoch, um mit seinem
Blick das Ganze wie die Einzelheiten zu erfassen. Er kann nichts be-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 7, S. 267, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-07_n0267.html)