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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 7, S. 266

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266 HELLO.

offenbarer Ungerechtigkeit zu unterwerfen; sie verschwendeten ihr
reinstes, bestes Blut im äusseren und leeren Kampf, welcher die frucht-
bare Arbeit der Kunst behindert; ihre Verzweiflung stahl ihnen und
der Welt zu tausendmalen die höchste Begeisterung, den jugendlichsten
Aufschwung, so dass die Stunden, welche Stunden des Genius, Stunden
des Lichtes gewesen wären, welche durch die Zeit und durch das
Weltall gestrahlt hätten, leere Stunden der Trauer und der Nieder-
geschlagenheit waren! Ja, dies vielleicht war das Werk der kleinen
Kritik, die gleichgiltig geblieben ist. Sie erachtete für ihre Ausgabe
das heilige Feuer zu verlöschen, das sie hätte entfachen sollen.

Wenn das Aufleuchten die Kunst erhellt, ist es die Kritik, die
da erwacht. Es ist nothwendig, dem Worte Kritik Genugthuung zu
geben für den negativen und beschränkenden Sinn, womit es ver-
bunden zu werden pflegt. Das Wort bedeutet: Unterscheidung. Und
Unterscheidung ist ein Werk des Lichtes.

Die Kritik ist das Gewissen der Kunst.

Wenn die Kunst sich selbst erblickt und sich fühlt; wenn sie
sagt: ich existire — sieh’ da bin ich! — dieser Jubelruf ist das
Resultat der Kritik, welche sich just erhebt. Sie lebt gleichfalls vom
Enthusiasmus und nicht von der Negation. Man stellt sie sich stets
als zum Nichts hingewendet vor, ich sehe sie zum Wesen gewendet.

Ein Vorzug des Genius ist der Enthusiasmus, dem allein es ge-
geben ist, ihn zu fühlen, der allein auch das Recht hat, ihn zu be-
urtheilen. Die dieses Sinnes entbehrende Mittelmässigkeit sieht im
Genius nichts als die negative Seite, den Fehler: sie beurtheilt ihn wie
die Behörde den Angeklagten. In den Augen der Mittelmässigkeit ist
der Genius der Schuldige par excellence; selbst wenn die Mittelmässig-
keit im Codex des Tadels, den sie gründlich kennt, keinen ver-
urtheilenden Paragraph findet: er ist im Vorhinein verurtheilt, durch ein
Gesetz ohne Formel, das eigens für ihn erfunden worden. Die
grosse Kritik lebt vom Bewundern, die kleine
vom Chicaniren
. Der Enthusiasmus fehlt in dieser Welt; möge
die kleine Kritik sich nur damit beschäftigen, ihn wieder anzufachen,
und sie wird dadurch wieder lebendig werden. Möge sie ihren Stein
zum Aufbau der neuen Jugend beitragen, der Jugend, auf welche die
Welt wartet, denn die Jugend fehlt dieser Erde. Galvanisch belebte
Leichname füllen die Ateliers und Dichtermansarden an.

Die Leichtfertigkeit ist hier durchgekommen. Sie ist es, die
Paris unter der ganzen jungen Sonne, der zwanzigjährigen Greisin
durchirrt.

Ja, die Kritik hat die erhabene Sendung, das Blut der Schaffenden
zu erfrischen und ihnen die Jugend wiederzugeben. Damit sie diese
Arbeit vollbringe, muss sie Geist haben, viel Geist.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 7, S. 266, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-07_n0266.html)