Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 7, S. 265
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kannt ist. Sie urtheilt nicht, um zu urtheilen, sie urtheilt, um ihren
eigenen Richtern zu gefallen; in ähnlicher Weise liebt sie diejenigen,
die fertige Phrasen wiederholen, weil sie nicht compromittiren, sie
weiss, dass diese Münze in Cours ist; bereits fertige Phrasen sind alte
Bekannte, die ihr keinen Schreck einjagen. Die kleine Kritik, überzeugt
davon, dass die grossen Männer niemals jung gewesen, ja nicht einmal
die noch Lebenden, dass die ganze Zeit über die Alten, schon vier
Jahrtausende Todten deren Fundament bildeten — verlacht und wendet
sich von der zeitgenössischen und lebendigen Grösse ab. Die Angst,
welche sie vor dem Genius hat, ist vermengt mit Spott. Vor solch
einem Fremdling erröthet sie, dass sie selbst existirt. Gegenüber dem
Genius wäre es geboten, zu verschwinden, aber die kleine Kritik ver-
schwindet niemals, sie schrumpft nur zusammen und erstarrt. Um sich
dafür zu rächen, weist sie in der Conception des Genius nach, dass
ein Beistrich fehle — und die Mittelmässigkeit klatscht.
Mag man welchen Sinn immer diesem wunderlichen Gebahren
unterlegen: die Mittelmässigkeit wird sich niemals ausconcertiren. Sie
will, dass diese Welt ihre Beute sei; sie reclamirt sie und bemächtigt
sich ihrer mit der Sicherheit des guten Rechtes, als ob sie in ihr
Eigenthum gehöre. Die mittelmässigen Leute brauchen sich nur zu
zeigen, und die Thüren werden ihnen sperrangelweit geöffnet, vor dem
Menschen höherer Art schliessen sie sich instinctmässig zu.
Stellt euch die alten mittelmässigen Personen vor. Der Enthu-
siasmus ist die Belohnung der Einfachheit, und complicirte Seelen fühlen
und begreifen nichts. Hofft nicht, die Mittelmässigkeit werde ergriffen
werden von eurem Wagemuth, euren Anstrengungen; sieh da ihren
Charakter: sie ist naturgemäss unbarmherzig! Wenn sie sich ein ein-
zigesmal überraschen, rühren liesse, würde sie aufhören, sie selbst
zu sein.
Sie untersteht sich nicht, vom Werke eines noch Unbekannten zu
sagen: Sieh’ da, ein Genius! Begegnet ihr ein von Lebenskraft und
Liebe zur Kunst überschäumender Mensch, umgibt sie ihn mit einem
Friedhof.
Wenn ich die unwissende Grausamkeit, die rohe Dummheit er-
wähne, geschieht dies deshalb, weil diese Grausamkeit nicht bemerkt
wird von dem, der sich ihrer schuldig macht, und auch nicht von dem,
der sie von Weitem betrachtet. Genius sein, ist die einzige Krankheit,
welche nirgends Mitleid, Bedauern findet, selbst nicht einmal bei
Frauen. Diese, die sich so gerne von falschen Grössen rühren lassen,
sind für wahre Grössen zumeist unbarmherzig. Sie lieben das Schimmernde
und missachten das Strahlende.
Seht die Namen derjenigen, die nicht Achtung, sondern Ruhm
verlangt haben; lest ihre Geschichte. Fragt sie aus, sie werden euch
antworten, dass sie mehr Kraft aufgewendet, um den grossen Haufen
abzuwehren und sich selber zu bestechen, als zur Schaffung von tausend
Erzkunstwerken nothwendig gewesen wäre. Sie vergeudeten Stunden,
die schön und fruchtbar hätten sein können, um sich den Martern
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 7, S. 265, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-07_n0265.html)