Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 7, S. 264

Text

264 HELLO.

er alle seine Gewogenheit in Hymnen auf die Alten erschöpft hat, besitzt
er nichts mehr als Kälte und Gleichgiltigkeit für die, welche da kämpfen,
welche da leiden, welche der Aufmunterung bedürfen.

Verändert den Namen des Autors auf dem Titelblatte, und die
Seiten, die er verrückt gefunden, erscheinen ihm grossartig, und um-
gekehrt.

Im Ganzen und Grossen hält die kleine Kritik Alles für un-
möglich; sie lässt nur das als möglich gelten, was ihrer Gewohn-
heit entspricht. Der Genius ist nicht nach ihrer Gewohnheit, und sie
verfährt mit ihm, wie sie vor einigen Jahren mit der Locomotive und
den elektrischen Telegraphen verfahren hat. Was den Genius bereits
verstorbener Leute anbelangt, so erklärt sie sie unbedenklich für Genies,
obgleich sie nicht weiss, was sie spricht, da es in ihrer Gewohnheit
liegt, dies zu erklären, und weil sie übrigens selbst kaum an die
Existenz solcher Leute glaubt. Sie vertheilt mit vollen Händen ab-
stracten Personen ihrer Stimmung nach Kränze, die sie nichts kosten,
weil sie ja nicht existiren. Mag die Vergangenheit den ihr gebührenden
Ruhm haben, sagt sie, denn sie selbst glaubt weder an die Vergangen-
heit, noch an den Ruhm. Doch die Gegenwart? Doch die Zukunft? —
Fort damit!

Auch huldigt diese höfliche, correcte, honigsüsse und mittel-
mässige Kritik einzig und allein conventionellen Ansichten, vorsichtiger
Bewunderung, officiellem Enthusiasmus. Sie spricht euch nicht frei von
der Anklage, Moderne zu sein, ausser wenn ihr gleichzeitig mittel-
mässig seid; sie besitzt für die Mittelmässigkeit, ich weiss, was für
eine rührende Zuvorkommenheit; sie erkennt sich selbst und gefällt
sich hierin. Auch wenn sie bestimmt, dass diese nicht ohne Tadel sei,
verzeiht sie ihr immer, erlaubt ihr Alles.

Der mittelmässige Mensch ist der Liebling, der Benjamin der
engbrüstigen Kritik. Sie beutet für ihn ihre Schwächen aus. Es ge-
nügt, dass die Mittelmässigkeit deshalb Mittelmässigkeit sei, damit sie
ein Anrecht auf die Nachsicht dieser Kritik habe, denn die Fehler
der Mittelmässigkeit sind selbst mittelmässiger Natur und somit der
Kritik sympathisch, von der ich spreche: sie sind abgegriffen, und
Alles, was abgegriffen ist, gefällt ihr. Die Mängel eines höheren
Menschen offenbaren eine lebendige, entwicklungsfähige Persönlichkeit,
und die kleine Kritik verdammt sie, nicht weil es Mängel, sondern
weil sie energischen Charakters sind.

Weich und todt, liebt sie, was weich und todt ist. In der Furcht,
dass nicht ein mit Gedanken bewehrter Mensch seine Stimme hören
lasse, die man zu hören bisher nicht gewohnt war, gibt sie Jenen gerne
den Vorzug, welche schreiben, um nichts zu sagen. Sie wehrt sich
dagegen, dass der Mann selbstständig sei, und befiehlt, dass er einem
Anderen gleiche: sie nennt das streng sein. Wenn sie bewundern soll,
forscht sie gewohnterweise nach, ob allgemein bewundert wird, was
sie vor Augen hat, und im Namen des guten Geschmackes steht sie
jeder Schönheit im Wege, deren detaillirte Beschreibung ihr nicht be-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 7, S. 264, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-07_n0264.html)