Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 7, S. 263
Text
grosse herrliche Intelligenzen, sei es, dass ihnen der Führer oder die
Unterstützung fehlt, erfolglos den Weg und die Befreiung.
Wie viel junge Leute gibt es hier, die vielleicht das Leben in
sich gehabt haben, die aber kalten Sinnes weggestossen wurden von
der Feindschaft oder von der Gleichgiltigkeit, welche noch weit ärger
als die Verfolgung ist, zurückgestossen von der Gleichgiltigkeit, die
alle gegen sie gerichteten Versuche mit dem Anathem belegt —
und verurtheilt von den Pedanten, die da wünschen, dass Einer dem
Andern gleiche, und dass Keiner das bekannte Niveau überschreite!
Die Feigheit, diese entsetzliche List der Hölle, ist es, wo-
durch die Seele starr wird, und welche den aufgehobenen Arm zurück-
hält. »Du wirst nicht Alles ausführen,« sagt sie, »thue also nichts.«
Aber, Hand aufs Herz, ist das ein Argument?
Ist es nothwendig, zu hoffen, dass, wenn wir reden wollen, die
ganze Welt schon im Voraus überzeugt ist, und dass, weil es Taube
gibt, das Wort sein Recht verliert?
Ich denke nicht.
Reden wir also, trotz der Tauben.
Reden wir von der Kritik, wie sie ist, und von der Kritik, wie
sie sein sollte.
Wenn ich von der kleinen Kritik sage, sie sei mittelmässig und
dumm, so wird sie dies nicht sehr verblüffen. Die Leute sind kreuzfroh,
dass sie mittelmässig sind, dass sie in der Mittelmässigkeit leben, dass
sie nicht ins Extreme fallen.
Wenn ich aber von der Kritik sage, sie sei grausam, wird sie
verdutzt dreinschauen, denn indem sie sich selbst nicht ernst nimmt,
achtet sie auch der Wunden nicht viel, welche sie mit kalter Hand
und in Glacés versetzt; sage ich ihr, sie sei unfähig, sei es was immer
aufzubauen, jedoch fähig, Vieles zu vernichten — sie habe nicht die
Kraft, das Leben zu schenken, aber den Willen, just in Folge ihrer
Schwachheit den Tod zu geben, und sie sei zu harmlos, wenn sie auf-
hören will, grausam zu sein, um intelligent zu werden: da wird sie,
weil sie nichts zu antworten weiss, die Achseln zucken: ich ginge
viel zu weit. Sie wird mir erwidern, sie habe nicht die Absicht zu
tödten. Eh! Ich rede nicht von euren Absichten! Ich weiss sehr gut,
dass ihr überhaupt keine Absichten habt; aber das ist es gerade, was
ich vorwerfe: Ihr solltet Absichten haben.
Derjenige, der urtheilen will, muss nothwendigerweise sagen, dass
der Aufschwung, der breite Gesichtskreis und die Tiefe für ihn nicht
Gegenstände des Luxus, sondern heiliges Gesetz seien.
Gebt einem solchen Tageskritiker ein ihm unbekanntes Meister-
werk in die Hand. Bevor er es wagt, sein Urtheil abzugeben, wird er
das eure erwarten. Bevor er seine Meinung fertig hat, wird er alle
seine Interessen sowie die Mienen aller seiner Freunde erforschen, da
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 7, S. 263, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-07_n0263.html)