Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 7, S. 258
Text
heit für jedes gesunde Gefühl, je nach dem Bedürfniss, eine Schule
aller möglichen furchtlosen und nie bestraften Anschläge je nach der
Nachfrage und dem Bedarf, Anschläge, die man als Princip und in
Folge dessen, dass wir nicht an sie gewöhnt sind, als eine Art Helden-
muth verkleidet, dem Alle Beifall klatschen. Wie denn? Greife ich die
Advocatur, unsere neue Rechtspflege an? Gott behüte mich! Ich möchte
nur, dass wir Alle ein wenig besser würden. Das ist ein höchst be-
scheidener, aber ach, ein sehr idealer Wunsch! Ich bin ein unver-
besserlicher Idealist. Ich suche Heiligthümer, ich liebe sie, mein Herz
dürstet nach ihnen, weil ich so geschaffen bin, dass ich nicht ohne
Heiligthümer leben kann, aber immerhin wünschte ich Heiligthümer,
die, wenn auch nur ein Tröpflein, heiliger wären; sonst ist es ja nicht
der Mühe werth, sich vor ihnen zu neigen.«
Schliesslich ist ja auch der Dichter mit dem Freispruch ein-
verstanden, allein er bedarf dazu keiner Fälschung seiner Begriffe,
keiner »Austrocknung seines Herzens».
Er ist es ganz einfach des Kindes halber, das man dazu vor
Gericht gestellt hatte, damit es von sich aussage: »Je suis voleuse,
menteuse« etc., und das, des Vaters durch dessen Verurtheilung be-
raubt, bei seiner Concubine lebend, nun ganz schutzlos aufgewachsen
und mit dem Brandmal behaftet wäre: Du hast mit sieben Jahren in
einem Processe gegen deinen Vater figurirt!
Wir aber möchten noch einen Schritt weitergehen, und was der
Dichter noch mit dem Rückhalt feiner Wendungen gegen die Advocaten
ausgesprochen, bis in seinen Urgrund verfolgen und aufdecken. Was
uns bei dieser Art der Reinwaschung als Erweckung persönlicher
Stimmungen durch die Advocaten beleidigt, ist nicht das, dass es ein
falsches Mittel ist und die Wahrheit verschiebt, sondern dass es die
officielle, sanctionirte, bewusste Ausnützung unseres bis zur Unsittlich-
keit gehenden Subjectivismus im Urtheile ist. Ein Advocat, der in
seiner Vertheidigungsrede, anstatt beherzt die That vom Thäter zu
trennen, uns diesen durch allerlei Mätzchen »interessant« macht, um uns
dadurch für seine That blind zu machen, weiss, dass er sich an so
viele schlechte Köpfe und schwache Herzen wendet, die das Ver-
brechen des Freundes nicht zu verdammen, die Grossthat des Feindes
nicht zu bewundern vermögen. Er weiss es und missbraucht es und ist
eben dadurch, anstatt von seiner Stelle aus an der Befreiung unseres
sittlichen Urtheils mitzuhelfen, eines der gefährlichsten Hemmnisse unserer
inneren Cultur.
Das ist es, was als »Residuum«, möchten wir sagen, der Dosto-
jewsky’schen Forderungen an den Vertheidiger im Gerichtssaale in
unserem Geiste wie eine bleibende Forderung fürs Leben zurückbleibt.
Der vierte Rechtsfall betrifft die hässliche Geschichte wohl-
habender Eltern, welche drei ihrer Kinder weniger liebten als ihre
übrigen Sprösslinge, sie in einer kalten Kammer frierend, schmutzig,
verwahrlost, hungernd wohnen liessen, wo sie auf schlechten Stroh-
säcken, auf dem Fussboden gebettet, Alle unter einer zerrissenen Decke
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 7, S. 258, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-07_n0258.html)