Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 7, S. 259
Text
schliefen, geprügelt, für Stunden in das Closet eingesperrt wurden etc.
Wir übergehen die Anklageschrift sowie die Phasen des Processes, der
gleichfalls mit einem Freispruche endet, und fügen hier nur im Wesent-
lichen die »phantastische Anrede« des Vorsitzenden an die Eltern an,
welche Dostojewsky in seinem Namen hält, um seine Ermahnungen
wie seine Gedanken über die Wurzel vieler Schuld und vieles Elends,
die Faulheit, öffentlich auszusprechen. Auch hier wie im Process Krone-
berg bricht seine überquellende Liebe für die Kinder mächtig hervor.
»Ihr seid freigesprochen, Angeklagte, allein bedenket, dass es
ausser diesem Gerichte noch ein anderes gibt — das Gericht eueres
eigenen Gewissens. Macht es so, dass auch dieses Gericht euch frei-
spreche, wenn auch erst in der Folge. Ihr habt angekündigt, dass ihr
euch jetzt selbst mit der Erziehung euerer Kinder und ihrem Unter-
richte befassen werdet. Hättet ihr euch früher dazu bequemt, so gäbe es
keine Verhandlung über euch und euere Kinder. Allein ich fürchte eines:
Habt ihr denn Kraft genug in euch, um eueren guten Vorsatz auszuführen?«
»Es ist nicht genug, sich zu solch einem Werke zu entschliessen
man muss sich auch fragen, ob es an Eifer und Geduld zu solchem
Werke nicht fehlen werde? Seine Kinder zu hassen, ist eine geradezu
unnatürliche deshalb aber auch unmögliche Sache. Denn so kleine
Kinder zu hassen, ist unvernünftig, ja sogar lächerlich. Aber die Faul-
heit, die Gleichgiltigkeit, die bequeme Entwöhnung von der Erfüllung
einer vor allem Anderen wichtigen, natürlichen und höheren Bürger-
pflicht, wie die Erziehung der eigenen Kinder es ist, können thatsäbh-
lich Lieblosigkeit, wohl gar Hass gegen sie erzeugen, ein Gefühl wie
persönliche Rache, in dem Masse, als sie heranwachsen, in dem Masse,
als ihre Anforderungen an euch zunehmen, in dem Masse, als ihr er-
kennet, dass man Vieles für sie thun, sich mit ihnen viele Mühe
geben, folglich ihnen Vieles von der eigenen selbstzufriedenen Ab-
schliessung und bequemen Ruhe opfern müsse. Dabei kann sich durch
die stets wechselnden Unarten der verwahrlosten Kinder und die sich
immer tiefer einwurzelnde Verderbtheit ihres Geistes und Herzens
endlich direct eine Abneigung gegen sie in den Herzen der Eltern
einnisten. In eueren heissen, thränenerfüllten Klagen über die Laster
euerer Kinder haben wir Alle hier euere tiefe und echte Bitterkeit
erkannt, die Bitterkeit eines unglücklichen, von seinem Kinde ge-
kränkten Vaters.«
»Aber denkt ein wenig nach und urtheilet selbst: Wodurch sollten sie
denn gebessert werden? Seine erniedrigende, schimpfliche Lage fühlend,
konnte das kleine Kind verstockt werden. Die allerphantastischesten, ver-
derbtesten und cynischsten Gedanken konnten durch seinen Kopf schweifen;
es konnte endgiltig seine Liebe verlieren, die Liebe zum heimatlichen
Neste, sogar zu euch, seinen Eltern; denn es konnte ihm scheinen,
dass euch seine Gefühle für euch sowie seine Menschenwürde nichts
werth seien. Aber bei einem Kinde — auch bei dem kleinsten —
findet sich ein starkes und schon formulirtes Gefühl seiner Menschen-
würde — beachtet das wohl «
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 7, S. 259, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-07_n0259.html)