Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 7, S. 260
Text
Im weiteren Verlaufe der fingirten Rede sagt der Dichter u. A.:
»Eure Kinder sind nicht im Saale, ich habe sie hinausführen
lassen und kann darum das berühren, was das Allerwichtigste bei dem
schweren Werke ist, das euch bevorsteht. Das Wichtigste ist das, dass
von beiden Seiten Vieles zu vergeben ist. Sie müssen euch die schweren,
bitteren Eindrücke vergeben, die ihre kindlichen Herzen empfangen
haben, ihre Verbitterung, ihre Laster. Ihr aber müsst ihnen euren
Egoismus vergeben, eure Vernachlässigung, die Verderbniss eurer Ge-
fühle gegen sie, eure Grausamkeit, und endlich das, dass ihr hier ge-
sessen und um ihretwillen angeklagt wäret. Ich sage dies Alles, weil
ihr nicht euch darob anklagen werdet sowie ihr den Gerichtssaal ver-
lasset, sondern unbedingt sie, eure Kinder; ich bin davon überzeugt!
Und so, da ihr euer schweres Werk der Erziehung eurer Kinder be-
ginnet, fraget euch selbst: ob ihr wohl imstande seid, euch selbst
aller dieser Uebertretungen und Vergehen anzuklagen, nicht sie, nein,
unbedingt euch selbst? Wenn ihr es vermöget, dann werdet ihr in
euren Mühen Erfolg haben. Das heisst, dass Gott euren Blick gereinigt
und euer Gewissen erleuchtet hat. Wenn ihr es aber nicht könnt — so
ist besser, ihr unternehmt es gar nicht, euren Vorsatz auszuführen.«
Und zum Schluss:
»Allein das Ergreifendste ist, dass ihr nicht nur keineswegs zu
den schlechtesten Eltern gehört, sondern noch besser als viele unserer
heutigen Väter seid, denn in euren Herzen ist das Bewusstsein eurer
Pflicht noch nicht erstorben, ob ihr sie auch nicht erfüllt habt. Eine
absolute Verleugnung eurer Pflicht ist bei euch nicht vorhanden. Ihr
seid keine kühlen Egoisten, sondern im Gegentheil aufgeregte — ob
über euch selbst oder über eure Kinder, das will ich nicht weiter
untersuchen. Allein, ihr habt euch als fähig erwiesen, euch euren
Misserfolg zu Herzen zu nehmen und einen tiefen Gram darüber zu
empfinden! Möge euch denn Gott in eurem Vorsatz, diesen Miss-
erfolg auszugleichen, beistehen. Suchet denn die Liebe und grabt sie
tief in eure Herzen ein. Die Liebe ist so allmächtig, dass sie uns
selbst umwandelt. Nur mit der Liebe können wir die Herzen unserer
Kinder erkaufen, nicht nur mit unserem natürlichen Recht über sie.
Ja, bei allen unseren Pflichten gegen unsere Kinder hilft uns die Natur
selbst am besten, indem sie es so einrichtet, dass es unmöglich ist,
Kinder nicht zu lieben. Ja, wie könnte man sie nicht lieben? Wenn
wir schon einmal aufhören, die Kinder zu lieben, wen sollen wir denn
nachher lieben, und was wird dann mit uns selbst geschehen? Erinnert
euch auch daran, dass nur um der Kinder und ihrer goldenen Köpfchen
willen der Erlöser uns verheissen hat, ‚dass sich die Zeiten erfüllen
werden‘. Um ihretwillen wird die Qual der Wiedergeburt der mensch-
lichen Gesellschaft zur grösseren Vollkommenheit abgekürzt werden.
Möge sich denn diese Vollkommenheit erfüllen und mögen die Leiden
und Missverständnisse unserer Civilisation ihr Ende finden!
Nun aber gehet hin, ihr seid frei!«
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 7, S. 260, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-07_n0260.html)