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Von Felix Rappaport (Wien).
Gustave Moreau ist dieser Tage zu Paris gestorben.
Den Zug, der ihn zu Grabe geleitet, umtönt nicht der aufdring-
liche und widrige Lärm, mit dem die Vielzuvielen diejenigen zu feiern
gewöhnt sind, die sie nicht erdrücken konnten. Nie hat ihn der
heulende Beifall der Uneingeweihten compromittirt; selbst Paris wusste
nicht viel von seiner Existenz. Einsam und zurückgezogen lebte er ein
Leben von antiker Einfachheit und Grösse. Selten hat man seinen Namen
in den Verzeichnissen der Ausstellungen gelesen.
Dieser Todte war wenn nicht der grösste, so doch der vor-
geschrittenste Künstler dieses Jahrhunderts. Während seines langen
Lebens sind an diesem Zeitlosen zahllose Schulen und Strömungen
vorübergezogen, ohne ihn wesentlich zu berühren. Nicht einmal seine
Technik hat sich beeinflussen lassen; von Anfang bis zu Ende der
Gleiche und Nur-sich-selbst-gleiche hat er weder an den Kämpfen um
die neue Lichttechnik Antheil genommen, noch ist er später von den
Farbensymphonikern und Tonlyrikern gewesen. Die Ordnungsliebenden,
die jeder Erscheinung immer irgend eine Marke ankleben müssen, dürften
ihn zu den Mystikern zählen. Richtiger wäre es, ihn einen Visionär
zu nennen. Sein Werk war die Vision höchster Entwicklungsmöglich-
keiten, reflectirt von einer Psyche, die einen Mechanismus von unend-
licher Verfeinerung und Complicirtheit darstellte. Ungleich denen, die
sich »auf ihre Stimmungen setzen können wie auf Pferde«, arbeitete
dieser Organismus, unbewusst, genau wie die wunderbaren Instrumente
der modernen Technik. Durch einen Namen, eine Erinnerung, einen
Ton angeregt, werden die in der Stimmung gebundenen Kräfte frei
und geben nach zahlreichen und mit unfehlbarer Logik sich ab-
spielenden Vorgängen ein Werk, welches uns mit seherischer Sicher-
heit das letzte und verborgenste Wesen des Stimmungsentladers —
des Themas — aufdeckt. Das ist der Zusammenhang der Kunst mit
der Mathematik, den die indischen Adepten lehren.
So haben sich uns durch diese Psyche Welten offenbart, die wir
bisher nur mittelst schlechtgebauter Instrumente, also unklar und ver-
zeichnet zu sehen gewohnt waren. Auch die Romantiker, die Nazarener
und Andere haben christliche Stoffe gemalt; aber einzig Moreau hat,
und schon vor den Präraphaëliten, in seinem höchsten Werk, in der
Salome, alle Zauber, Wollüste und Trunkenheiten concentrirt, welche
das moderne Nervensystem aus diesem Begriff »Christenthum« schöpfen
kann. Unzählige Phantasien haben versucht, sich durch das Griechen-
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 12, S. 468, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-12_n0468.html)