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thum befruchten zu lassen und einen Strahl dieses Lichtes aufzufangen; die
meisten haben kaum die äusseren Formen richtig aufgepasst, es kaum
zuwege gebracht, Linien zu copiren, und durch ihre seichte und äusser-
liche Nachahmung die Entwicklung ganzer Epochen in falsche Bahnen
gelenkt. Während so der deutsche Geist an die Lösung des Problems
»Griechenthum« ein Jahrhundert lang umsonst seine besten Kräfte ausgab,
ist es diesem Franzosen von selbst aufgegangen. Nebst Nietzsche, der
uns neue Wege nach Jonien erschloss und die so lange geglaubte
Mär von der »heiteren Ruhe« der Hellenen aus der Welt schaffte,
hat Moreau in einer Reihe seiner besten Gemälde, im »Orpheus«, der
»Galatea«, »Helena«, »Oedipus und die Sphinx« aus dem tiefen Born
geschöpft, dem die hellenische Cultur entstieg. Ihm ist das Dämonische,
Unterirdische, Naturträchtige dieser räthselhaften Gestalten klar ge-
worden, er sieht sie in ihren Anfängen, den egyptisch-asiatischen Natur-
mysterien; wie er, gegen alle Tradition, griechischen Göttinnen edel-
steinbesetzte Kleider und Kronen gab, hätte er sie auch mit acht
Armen und Köpfen versehen können, neugeschaffen aus dem uralten
Born des indischen Pantheismus. Nur einmal noch hat unser Jahr-
hundert eine solche Auferstehung gefeiert, als die Welt der Edda —
an der ein Hebbel so kläglich scheiterte — sich im Werke Wagner’s
offenbarte. Ein Vorgang, den nur die Annahme erklärt, die Summe der
Energien, die sich in solchen Systemen resumirt hatten, habe sich eines
vollkommener gebauten Gehirnes zu einer neuen Incarnation bedient.
Im Grunde bedeutet dieser Vorgang nur die ganz natürliche
Weiterentwicklung des genus »homo«: die nächste Stufe. Auf diesem Wege
wird das neue Wesen entstehen, das nur die Grössten bisher dunkel
geahnt haben. Wir kennen seinen Namen nicht; einer seiner Vorläufer
war Gustave Moreau.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 12, S. 469, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-12_n0469.html)