Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 12, S. 470
Text
Leise, mit heiter-hoher Geberde,
Unhörbar, unsichtbar der lärmenden Welt,
Geht ein Festzug über die Erde
Seine Schritte streifen mein stilles Zelt.
Seelenmächtig spür’ ich es schreiten,
Kühnheit athmend, den Blumenpfad,
Triumphirende Lebensklänge geleiten
Seine Spur von Gestad’ zu Gestad’.
Komm’ Geliebte, tritt aus dem Zelte
Uns’rer frohlockenden Liebesrast —
Sieh’, wie der Aether rings sich erhellte,
Wie der Himmel die Erde zärtlich umfasst!
Jene vorüberzieh’nden Gestalten
Stiegen aus zitternden Träumen empor,
Und nun kann unser Auge sie halten,
Bis sich im Goldduft die Ferne verlor.
Will sich der Freien Geschlecht offenbaren?
Deutet des Menschen Erfüllung sich an?
Siehe, das sind uns’rer Genien Schaaren,
Der in Schönheit schaffende Geisterbann!
Leise, mit heiter-hoher Geberde,
Geht der Festzug über die Welt,
Unhörbar, unsichtbar der lärmenden Heerde,
Seine Schritte streifen auch unser verschwiegenes Zelt.
Zürich. Carl Henckell.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 12, S. 470, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-12_n0470.html)