Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 12, S. 463
Text
Novellette von Rosenkrantz Johnsen.
Einzig autorisirte Uebersetzung von E. Brausewetter.
Worauf die Menschen nicht Alles kommen — was das menschliche
Hirn nicht Alles auszuhecken vermag — wie es sich nicht unerwartet
Abfluss verschaffen kann, wenn der Irritationsstoff, der so lange unter
der Wohlerzogenheit verborgen lag, plötzlich zur Explosion kommt.
Da ist z. B. Finken Helm! Nun haben die Ihrigen vor ihr Respect
bekommen! Sie ist eine privilegirte Dame geworden, eine Persönlichkeit,
auf die man Rücksicht nimmt. Man hat begriffen, dass man sich bei
ihr auf alles Mögliche gefasst machen kann, und daher nimmt man
Rücksicht.
Und das Alles nur, weil sie einmal ihre Natur alle Fesseln des
Zwanges abwerfen liess.
Finken war von Natur sprühende Lebhaftigkeit. Schon als Mädchen
liefen ihr alle Männer nach.
Die Flaumbärtigen und Cynischen sprachen mit plumper Be-
wunderung von ihrem Mund und ihrer Figur; die Gesetzten und Wohl-
erzogenen dachten im Geheimen an Finken, wenn sich Gelegenheit
fand, ein Hoch auf das Weib auszubringen.
Sie aber heiratete einen Cyniker aus ihrem Bekanntenkreis.
Er hiess Tom Helm und war vierzig Jahre alt, während sie
damals nur achtzehn zählte. Er war gross und breitschulterig, hatte
einen ziemlichen Mond und einen stattlichen Schnurrbart, der hübsch
seine ein wenig verdorbenen Zähne verdeckte.
Er hatte Finken lange gekannt. Er hatte sie sogar auf den Armen
getragen, als sie noch klein war, und viele Jahre lang du zu ihr gesagt.
Dann ging er ins Ausland, und als er wieder zurückkam mit den
Spuren reifer Erfahrung und fremder Cultur, war Finken eine er-
wachsene Dame.
Und Tom Helm war mit ihren Bekannten darüber einig, dass sie
hübsch und flott sei. Er fühlte sich zu ihr hingezogen, weil sie, ohne
eigentlich schön zu sein, jung und frisch und unmittelbar war — sein
völliger Gegensatz.
Das räumte er ein: die Menschen lieben ihren eigenen Gegensatz,
Mir sind jetzt alle Damen, die nicht mehr erröthen können, so durch
und durch zuwider — diese Damen, die Alles können und Alles
wissen und mit denen wir Männer bald über Alles reden können
Sie umschnüren ja unsere Phantasie. — Und wenn unsere Phantasie der
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 12, S. 463, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-12_n0463.html)