Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 12, S. 462
Text
Schrecken des Todes? Im hohen Saal, dort wo sie um Kronen und
Throne feilschen. Aber vielleicht ist ihm auch das nur Spass.
Und ich denke an seinen Holofernes. Nicht an den, der die ge-
waltigen Reden fuhrt, über die das Volk erschrickt und seine Krieger
zittern. Nein, an den, der in heiliger Frühe den Vorhang seiner Zelte
hebt und mit Schritten wie die Sonne, mit Geberden wie die Schatten
des Berges hervortritt und ruft: »Opfert!« Erinnert ihr euch, wie da
die Feuersäule stieg, die Rauchwolken wallten? Aber er, der Rufende,
Heischende, der Jünger Zarathustras, sank wie vom Blitz getroffen, wie
vom Sturm geknickt, die Augen scheu zur Erde, sank in die Knie,
um anzubeten.
Wem betete er?
Darum sind die besten von seinen Rollen die, die er noch nicht
gespielt. Die wir uns ausgedacht, wenn wir durch die öden Gassen
heimwärts gingen und das Schaugepränge der Bühne versunken war in
der Nacht und er allein mit uns. Dann war allemal die Rolle, in der
nr das letzte Wort seiner Räthsel sprach, noch nicht geschrieben, noch
eicht gedichtet. Aber wir dichteten sie. Dann sahen wir ihn als den
Helden von vielen Erlösungen, nicht nur als den, der den Willen zur
Macht nur über die andern hat, sondern auch »über den Einen, den
Gott Ich«. Und wir sahen ihn mit der Krone des Lachenden, dieser
»Rosenkranzkrone«, sahen, wie er »sich selbst aufsetzte diese Krone«,
wie er selbst »heilig sprach sein Gelächter«. Ueber sich hinweg hörten
wir ihn lachen.
Nein, diese Rollen, seine besten Rollen werden nicht gedichtet,
wären nie gedichtet worden, ihr selbst hättet sie ihm andichten müssen,
andichten können, das war eure höchste Lust an diesem Gaukelspieler,
das hätte eure höchste Lust sein können, wenn ihr es verstanden hättet.
Darum, ihr Wissenden, ist er euch nicht entschwunden. In euch
lebt er immer wieder auf, ihr beschwört ihn immer wieder herauf auf
eure Bühne, die euch allein gehört; Mitterwurzer redivivus! Ihr träumt
ihn mit dem Baumeister Solness hinauf auf den schwindelnden Thurm,
ihr lasst ihn mit Gabriel Borkmann hinauswandern »ins Ungewitter
des Lebens«, ihr hört ihn mit dem Narren im Gewittersturm auf öder
Haide. Und vor Allem, ihr dichtet ihm in euch jene ungedichteten
Rollen, die Rollen ohne Worte, die Rolle von dem König mit der
Krone des Lachenden, der Rosenkranzkrone, die er sich selber aufsetzt.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 12, S. 462, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-12_n0462.html)