Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 12, S. 471

Wiener Kunstfrühling (Schoenaich, Gustav)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 12, S. 471

Text

WIENER KUNSTFRÜHLING.
Von Gustav Schoenaich (Wien).
II.

Eine der fesselndsten Erscheinungen in der Secessionsausstellucg und
ein echter Secessionist in dem einzig berechtigten Sinne eines Künstlers,
der die Dinge mit seinen eigenen Augen betrachtet und die Macht
hat, das von ihm Geschehene auch Andern überzeugend darzustellen,
ist der Italiener Giovanni Segantini. Zahl und Verschiedenartigkeit
der von ihm ausgestellten Werke geben auch ein ausreichendes Bild
sowohl von der Entwicklung als der Eigenartigkeit seiner Individualität,
von dem imponirenden Umfang seines Könnens und den vielen Saiten,
die Gesehenes in seiner reichen Natur erklingen macht. Sein künst-
lerisches Wesen hat einen Zug ins Grosse. Er gibt sich nicht mit
Kleinigkeiten ab. Seine Arbeiten bedeuten von der stofflichen Seite
betrachtet eine Reaction gegen die ebenso erklärliche als gerechtfertigte
Abneigung, welche die Modernen der grossen Natur, den Paradiesen
der grossen Touristik entgegen bringen. Erklärlich und gerechtfertigt
war diese Abneigung, weil die Gletscher- und Gebirgmalerei in’s
Schablonenhafte herabgesunken war, weil sich bei Künstlern und
Publicum ein im Inhalte immer mehr abmagernder Begriff über das
Malerische herausgebildet hatte. Bis zur Kartenmalerei war das grosse
Landschaftsbild herabgesunken, bei der ein eisstarrendes Gletscherhaupt
oder ein tosender Wasserfall Atout war. Die Grossartigkeit der Natur
wurde den Betrachtern durch eine Art Gaunersprache des Pinsels
vermittelt. Dem gegenüber erschien sehr natürlich, dass die wahrhaft
Berufenen unter den Künstlern die Wunder der Erscheinung, an denen
das bescheidenste Stück Natur nicht arm ist, durch liebevolles Ein-
gehen und Beobachten zu erfassen trachteten, dass ihnen die Reize
der Fläche, das Spiel der Wolken, der unerschöpfliche Reichthum der
Beleuchtungen und Lufttöne als die wahren Quellen erschienen, die sich
erfrischend über eine neue, intime Art die Natur zu erfassen und
darzustellen, ergiessen sollten. Wir verdanken dieser Richtung, welche
sich von allen Knalleffecten der Natur ängstlich ferne hält und das
Grosse im Kleben, das Beseeligende im Leisen, das Ueberraschende
im Alltäglichen aufsucht, eine Steigerung unseres inneren und äusseren
Sehvermögens und eine Vertiefung unserer Naturempfindung. Und diese
neue Weihe, welche die Kunst der Landschaftsmalerei empfing, stärkte

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 12, S. 471, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-12_n0471.html)