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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 12, S. 478

Text

NOTIZEN.

Burgtheater. »Die Neu-
vermählten
«. Lustspiel in zwei
Aufzügen von Björnstjerne Björn-
son
. — »Komödie der Irrun-
gen
«. Lustspiel in einem Act von
Shakespeare.

Björnson, dem schon vor mehreren
Decennien das Bühnenglück in
Deutschland hold war, zur Zeit als
die Werke Ibsens, seines Alters-
genossen, noch fast unbekannt ge-
wesen, ist nun ein Halbvergessener.
Nur um den Schein von Thätigkeit
zu erwecken, hat der neue Burg-
theaterdirector keinen besseren Ein-
fall gehabt, als zu einem seit
zwanzig Jahren ein »Reclam«-
Scheinleben führenden Stücke dieses
Schriftstellers das Premièren-
publicum zu bemühen. »Die Neu-
vermählten« sind allerdings ein gutes
Beispiel, an dem man den Unter-
schied zwischen moderner und un-
moderner Bühnendichtung deutlich
demonstriren kann. Darin ist ge-
rade das, was heute interessirt,
nämlich die Vorgänge in den Seelen
zweier junger Eheleute, hinter die
Scene verlegt, das Bild ist gleich-
sam verkehrt in den Rahmen ge-
steckt. Wir sehen den Rücken der
Leinwand und den Rahmen. Wir
sehen die Leute zur Seelenmahl-
zeit gehen und von ihr kommen,
sind aber grausamerweise nicht
dazu eingeladen worden. Das
Stück wurde lau aufgenommen,
ebenso die darauffolgende »Ko-
mödie der Irrungen
«. Hier
brachte die neue Direction eine
Neuerung. Bisher war es im Burg-
theater üblich, den Uebersetzer
und Bearbeiter Shakespeare’s auf

dem Theaterzettel zu nennen.
Diesmal unterblieb dies. Freilich han-
delte es sich hier um ein tempel-
schänderisches Beginnen, denn das
fünfactige Lustspiel war in einen
Act zusammengezogen worden, und
der Uebelthäter mag doch wohl
eine Regung des Schamgefühls ge-
habt haben. Es gab den ganzen
Abend hindurch keine Scene, bei
deren Darstellung man nicht die
leitende Hand vermisst hätte. Der
Styl war derselbe bei Björnson und
Shakespeare. Ueberall schlug rauher,
polternder Bierton durch. Man muss
lange die Bretter des Burgtheaters
nicht betreten haben, um, wie die
treffliche Auguste Baudius, die als
»Gast« erschien, angenehm abzu-
stechen. Sie ist während ihrer Ab-
wesenheit von Wien viel in der
Welt herumgekommen, und es ist
eine Freude, auf ihrem intelligenten
Antlitze die künstlerisch ver-
arbeiteten Erfahrungen ablesen zu
können. Das »Kleinod« vom Fran-
zensring, Fräulein Mede1sky, war
unverfälschte Theaterschule. Die
Komiker des Abends vermochten
nicht über den Ernst der Situation,
in der sich das Burgtheater befindet,
hinwegzutäuschen.

—i— .

Carltheater. Das Ensemble
des Neuen Theaters in Berlin, mit
dem Director Lautenburg‚das die
»Wildente« gastspielweise in
Wien aufführte, enthält keine eigent-
lichen Ibsen-Spieler. So dar-
gestellt hätte die Dichtung auch
von Iffland geschrieben sein können.
So weit sind wir derzeit hierzu-
lande selber. Wer sich in einer
fremden Stadt produciren will, soll

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 12, S. 478, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-12_n0478.html)