Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 12, S. 472

Wiener Kunstfrühling (Schoenaich, Gustav)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 12, S. 472

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472 SCHOENAICH.

auch Segantini’s Fähigheit das Grosse, Ueberwältigende in der Natur
mit erfrischten Sinnen aufzunehmen und die Erscheinungen des Er-
habenen, die grossen Einsamkeiten, die Höhen, welche die Geschwätzig-
keit des Menschen verstummen machen, in einem erneuerten Sinne
aus seiner starken künstlerischen Individualität heraus darzustellen.
Was uns seine »Alpenweide« von der Unbekümmerniss der Natur um
Menschenschicksal, von Dauer im Wechsel und Beharren im Wandel
erzählt, das konnte nur der schicksalsreiche Künstler in Erfahrung
gebracht haben, dessen jahrelanger ehrfürchtiger Verkehr mit dieser
grossen, mitleidlosen Natur ihm das Verständniss der dunklen Laute
ihrer Sprache durch inneres Erleben erschlossen hat. Dieses tief-
einsame Hochplateau mit dem Blick auf die ewigstarre Gletscherwelt,
auf dem ein Schafhirte unter dem Drucke der Natur ein von dumpfen
Bewusstsein spärlich erhelltes Instinctdasein verträumt, ist eine neu-
schöpferische Variation auf das berühmte »Tristezza«-Bild des Meisters.
Hingegen bildet »Die Frucht der Liebe« — eine Mutter, die mit
ihrem Kinde am Schosse auf einem niedergebeugten Baumstamm sitzt
— das jubelnde Gegenstück zur vernichtenden Tragik der »mères
dénaturées«, jener schaurigen Winter- und Gletscherphantasie über
Kindesmörderinnen, die Segantini so genial veranschaulicht hat. »Die
Quelle des Uebels«, auf dem ein nacktes Weib sich auf einsamer
Höhe im Quellwasser spiegelt, an dessen Rande das unheimlich
funkelnde Ungethüm der Eitelkeit sitzt, ist eine coloristische Leistung
ersten Ranges. Hingegen zeigt das Bildniss eines Wohlthäters, aus
einer Zeit, da sich der Künstler noch nicht selbst gefunden und mit
seinen Ausdrucksmitteln noch stark im Banne der Tradition befangen
war, die Stärke seiner ursprünglichen Veranlagung für Wahrheit und
Charakteristik. Von seinem eingehenden, nimmermüden Naturstudium
geben die im ersten Stock ausgestellten Skizzen ein lautredendes
Zeugniss.

Die Deutschen sind in unserer Secessionsausstellung, wenn nicht
ausreichend, so doch durch vortreffliche Werke und erlesene Namen
vertreten. »Vor der Schicht« von Gotthard Kuehl schildert das Zu-
ständliche des Vorganges mit jener gelassenen Theilnahme und unge-
schminkten Wahrheit, deren Gepräge alle Werke dieses Künstlers
tragen. Die schöne Behandlung der Lufttöne legt uns das Dargestellte
aufs Wärmste an’s Herz. Hans von Bartels’ »Nach der Arbeit« zeigt
alle Vorzüge dieses Meisters, der unter den Erneuerern der deutschen
Malkunst einer der ersten und anregendsten war. Heinrich Zügel
hat wieder ein vortreffliches Thierstück beigestellt. Von den vier der
grössten Künstlern, die an der Spitze der heutigen Bewegung der
Malerei in Deutschland stehen, finden wir bedeutende und charakte-
ristische Werke: von Arnold Boecklin, Friedrich von Uhde, Max
Klinger und Hans Thoma. Boecklin ist durch sein Münchener Pina-
kothekbild »Das Spiel der Wellen« ausgezeichnet vertreten. An
schäumender Lebenskraft, Ueppigkeit des Farbentones, jubelnder
Daseinsfreudigkeit, Klarheit im Sehen und Verkörpern phantastischer

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 12, S. 472, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-12_n0472.html)