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sache die Geschichte beherrscht: Der Schutz der Grossen, die Zer-
schmetterung der Kleinen. Kann der naive »Mann aus dem Volke«
nicht dahin kommen, zu verstehen, dass es nur eine Raison in der
Weltgeschichte gibt, das ist: Sich opfern für eine Menge von Dingen,
die er niemals geniessen wird, sich opfern für politische Combinationen,
die auf ihn gar nicht achten.
Auch die Schafe gehen ins Schlachthaus, aber sie wählen
wenigstens nicht den Schlächter, der sie tödten, den Bourgeois, der
sie verzehren wird. Sie sagen nichts, sie hoffen nichts. Mehr Schaf
als die Schafe, ernennt der Wähler seinen Schlächter und wählt seinen
Bourgeois. Für dieses Recht hat er Revolutionen gemacht.
O Leser, unsagbarer Schwachkopf, armer Teufel, wenn Du statt
den absurden Honigreden anzuhängen, welche Dir jeden Morgen für
einen Sou in schwarzen oder weissen oder rothen Blättern verkauft
werden, wenn Du, anstatt den eingebildeten Schmeicheleien, womit
man Deine Eitelkeit verzärtelt, wo man vor Deiner jämmerlichen
Souveränität auf den Füssen liegt, wenn Du Dich, statt in die unbe-
holfenen Betrügereien der Wahlprogramme vor Deinem Kamin in irgend
einen ernsten Denker vertiefen würdest, vielleicht würdest Du da er-
staunliche und nützlichere Dinge erfahren, vielleicht würdest Du dann
weniger rasch Deinen schwarzen Gehrock und Deine würdevolle Miene
aufsetzen, um zur verderblichen Wahlurne zu eilen, wo Du im Vor-
hinein — welchen Namen Du auch hineinlegst — die Dienste eines
Anderen besorgst. Diese Denker würden Dir sagen, dass die Politik ein
ungeheurer Schwindel ist, dass dort jede wahre Erregung verhöhnt,
jede einfache Vernunft verlacht wird und dass Du dort gar nichts zu
suchen hast, Du, dessen Rechnung im grossen Buch der menschlichen
Geschicke besiegelt ist!
Träume danach, wenn Du willst, von lichtvollen Paradiesen,
von unmöglichen Brüderlichkeiten, von unwirklichen Glückszuständen.
Träumen thut wohl, es besänftigt das Leiden. Aber menge nie den
Menschen in Deinen Traum, denn wo der Mensch in Action tritt,
ersteht Schmerz, Hass, Mord. Erinnere Dich besonders, dass die Leute,
welche um Deine Stimme ansuchen, unhonnete Leute sind, die mehr
versprechen, als sie halten, als sie zu halten Macht haben. Der Mensch,
den Du erhebst, repräsentirt nicht Dein Elend, nicht Deine Sehnsucht,
nichts von Dir. Er repräsentirt nur seine eigenen Leidenschaften, seine
eigenen Interessen, die den Deinen entgegengesezt sind. Also, kehre
heim, guter Junge, und mache dem allgemeinen Wahlrecht Streik.
Du hast nichts dabei zu verlieren, sage ich Dir, und vielleicht macht
es Dir eine Zeitlang Vergnügen. Auf der Schwelle Deines Hauses
sitzend, das den politischen Hausirern verschlossen bleibt, lass das
Gedränge an Dir vorbeidefiliren und rauche in Ruhe Deine Pfeife.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 13, S. 515, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-13_n0515.html)