Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 14, S. 521
Text
Wiener Rundschau.
1. JUNI 1898.
DIE NAZARENER.
Von Dr. Eugen Heinrich Schmitt (Budapest).
Von Zeit zu Zeit tauchen Nachrichten auf, dass in Ungarn oder
auch in Serbien Militärpflichtige die Waffenfolge verweigern, infolge-
dessen zu langjährigem Kerker verurtheilt werden, in welchem sie
schmachten, bis sie nach wiederholter vergeblicher Aufforderung die
grösste Zeit ihrer Militärpflichtigkeit im Gefängnisse abgesessen, um
endlich nach 12- bis 16jähriger Haft als körperlich gebrochen und
untauglich entlassen zu werden. Man nennt die Leute Nazarener.
Sie weigern sich Waffen zu nehmen und Eid zu leisten, mit der Be-
gründung, dass Christus keinerlei Menschenmord, auch nicht den auf
behördlichen Befehl gestattet habe, dass er vielmehr befohlen habe,
selbst unsere Feinde zu lieben; dass er mit völlig klaren, völlig unzwei-
deutigen Worten den Eid verboten habe. (Ev. Matth. 5. V. 33—37.)
Wer sind diese eigenthümlichen Menschen, die inmitten des in
Waffen starrenden, christlichen Europa sich auf die Worte des Meisters
berufen und dieselben mit dem unerschütterlichen Heroismus der Blut-
zeugen der Urkirche befolgen? Begeben wir uns einmal in ihren Kreis,
um den Anachronismus näher zu studiren.
In einem Betsaal mit schlichten Bänken, an dessen Ende sich
ein Tisch befindet, versammeln sich Männer und Weiber, die einen in
der linken, die anderen in der rechten Bankreihe. Um den Tisch nehmen
auf Stühlen die Altesten der Gemeinde Platz. Es sind einfache Leute
in schlichten, meist ärmlichen Gewändern. Ein gewisser feierlicher
Ernst prägt sich aus in ihren Zügen, aber auch ein tiefer Friede und
eine eigenthümliche Heiterkeit, die aber in dem schwärmerischen
Blicke wie der Abglanz aus einer anderen Welt erscheint. Ihr ganzes
Auftreten macht auf uns den Eindruck einer ganz anderen Welt, einer
längstvergangenen. Ein älterer Mann vertheilt Bücher unter den An-
wesenden, es sind Gesangsbücher, die die Aufschrift: »Die Zionsharfe«
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 14, S. 521, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-14_n0521.html)