Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 14, S. 522

Die Nazarener (Schmitt, Dr. Eugen Heinrich)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 14, S. 522

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522 SCHMITT.

tragen, ferner Bibeln. Einer der Ältesten hält eine kurze Ansprache
und man beginnt den Gottesdienst mit einem Gebete, dem Vaterunser.
Dann bezeichnet er einen Gesang, den die Gemeinde anstimmt. Nach
einer Reihe von Gesängen tritt derselbe oder auch ein anderer der Ältesten
hervor und beginnt eine Predigt über einen heiligen Text, der den
Evangelien oder den Propheten entnommen ist. Vorträge wechseln so
mit Gesängen und Gebeten. Die Leute sind nicht so sehr eine Confession
als vielmehr vor Allem eine Brüdergemeinde, die sich zur Aufgabe
gesetzt, ein Leben zu führen, wie es den Vorschriften der Evangelien
entspricht. Es sind meist arme Leute, aber es gibt keine Nothleidenden,
keine Hungernden unter ihnen. Wenn wirkliche Noth eintritt für irgend
einen dieser arbeitsamen und genügsamen Menschen, so hält es die
Brüdergemeinde für ihre heiligste Pflicht, dass jeder Einzelne nach
Massgabe seiner Mittel für die Unterstützung desselben beitrage, so
lange, bis sich seine Lage gebessert. Die ganze Gemeinde ist eine
einzige Familie. Der übrigen Welt gegenüber, die sie als Heiden
betrachten, verhalten sie sich auch mit der grössten Sanftmuth und
einem immer dienstbereiten Wohlwollen. Sie streiten nicht, sie er-
widern Beschimpfungen, oder auch thätliche Insulte niemals mit
Gleichem. Sie vergelten Böses nie mit Bösem, eingedenk der Worte
des Evangeliums: »Liebet Eure Feinde, segnet die Euch fluchen, thut
Gutes denen, die Euch beleidigen und verfolgen.« Sie handeln nie
über Waren. Wenn die Leute den von ihnen angebotenen billigen
Preis nicht gewähren wollen und oft ein höchst unbilliger niederer
geboten wird, antwortet der Nazarener: Nimm es im Namen Gottes
hin, wenn Du das für billig erachtest und Deine Mittel Dir nicht er-
lauben, mehr zu geben. Es ist dies eine so bekannte Erscheinung,
dass ich einen Mann im ungarischen Tieflande kannte, den man für
einen Nazarener hielt, weil er nicht fluchte (eine dort höchst allge-
meine Unsitte) und nicht feilschte. Sie machen so die Worte Christi
lebendig: »Widerstehe nicht dem Übel,« und »gib dem, der etwas
von Dir verlangt«. Nur im oben erwähnten Punkt stossen sie zu-
sammen mit den staatlichen Behörden. Sie verweigern den Eid und
halten den Menschenmord für völlig unvereinbar mit der Lebensführung
eines Christen. Wer in ihre Gemeinde eintreten will, muss sich in
einen völlig neuen Menschen umwandeln. Er muss die Schlechtigkeit
seiner bisherigen Grundsätze bekennen und alles Unrecht, welches er
bis dahin gethan, mit der That gutmachen. Der Bekehrte bekennt
den von der Behörde nicht entdeckten Diebstahl oder Todschlag offen,
wird infolgedessen verurtheilt und geht mit leichtem gehobenen Herzen
in den Kerker; nachdem er denselben abgebüsst und hiedurch aber
»informiert ist nach der Moral« der übrigen sogenannten christlichen Welt,
tritt er vor die Brüdergemeinde, die ihn mit liebevoller Freude in ihre
Arme nimmt, ein irdisches Vorbild jenes himmlischen Vaters der Parabel,
der dem heimgekehrten verlorenen Sohne sein Festmahl bereitet.

Die Secte taucht auf in der ersten Hälfte des Jahrhunderts und
ihr Gründer ist ein protestantischer Prediger Samuel Heinrich

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 14, S. 522, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-14_n0522.html)