Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 14, S. 523

Die Nazarener (Schmitt, Dr. Eugen Heinrich)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 14, S. 523

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DIE NAZARENER. 523

Fröhlich, geboren in Brugg in der Schweiz im Jahre 1803. Der
tiefinnig religiös gesinnte Mann bricht mit seiner Kirchengemeinschaft
und schliesst sich einer englischen baptistischen Gemeinschaft an, wird
Missionär der Continental Missions-Gesellschaft, deren Lehren er jedoch
im Sinne der Evangelien zu reinigen und zu vollenden bestrebt ist.
Fröhlich gründete Gemeinden in der Schweiz, in Württemberg und
Baden, wo man die Anhänger »Neutäufer« nennt. Den mächtigsten
Anhang jedoch gewinnt die Glaubensgemeinschaft, deren Mitglieder
sich selbst die »Glaubenden in Christo« nennen, in Ungarn. Ein
Schmiedgesellenamens Ludwig Hemsey machte 1842, nach Anderen
noch früher, in der Schweiz die Bekanntschaft Fröhlichs und brachte
die Lehre nach Ungarn. Er bekehrte in Stuhlweissenburg einen Fran-
ciscaner-Mönch, namens Gáspár, einen der berühmtesten ungarischen
Kanzelredner jener Zeit, auf den der schlichte Schmiedgeselle mit dem
bleichen Angesicht und den leuchtenden Augen den tiefsten Eindruck
machte. Hemsey verbreitete die Lehre dann in den Comitaten jenseits der
Donau. Später gegen 1846 pilgert ein zweiter Handwerker Josef Bella
zu Fröhlich, der in Budapest, dann im Liptauer Comitate Anhänger ge-
winnt. Von der absolutistischen Regierung 1850 sammt seinen Anhängern
verfolgt und in den Kerker geworfen, flüchtete er sich dann nach Amerika.
Der mächtigste Apostel der Lehre in Ungarn, der dem Nazarenerthum
massenhaft Anhänger gewann, ist aber Josef Kalmár (früher Krämer)
aus Pacsér im Bácser Comitate. Er nahm Theil am ungarischen Frei-
heitskriege von 1848 und wird in der Gefangenschaft mit der Lehre
bekannt. Aus dem Gefängnis entlassen, verkündet er die Lehre erst
in Pacsér und Umgebung, dann von Dorf zu Dorf wandelnd, wo das
Volk ihm in Massen zuströmt und seine feurigen Predigten hört, die
sich besonders gegen die Geistlichkeit wenden. Die Behörde kerkert
ihn zuerst in Zombor, dann in Ofen als Aufwiegler ein, und da sich
für eine Lehre des Nichtwiderstandes die Beweise für Aufwiegelung
zur Gewaltthat etwas schwer erbringen lassen, lässt man Kalmár für
irrsinnig erklären und bringt ihn nach Wien in die Irrenanstalt, wo
man ihn vom Jahre 1855 bis zum Jahre 1862, also sieben Jahre lang
gefangen hält. Im Jahre 1863 befindet er sich in Pacsér, nun aber als
Gegner aller dogmatisch positiven Religion, was auch zu seiner Ab-
trennung von der Nazarenergemeinde führt. Er wurde Schreiber bei
dem Amte der Donauregulierung, und soll 1877 noch gelebt haben.
Die mächtigste ungarische Nazarenergemeinde ist in Hódmezö-Vásárhely.
Von Ungarn aus verbreitete sich der Nazarenismus auf benachbarte
Gebiete, nach Croatien, nach Syrmien, nach Serbien, auch nach Wien,
wo ebenfalls eine Nazarenergemeinde existiert, die in der Wallgasse
ihre Zusammenkünfte hält.

Wir haben gesehen, dass Samuel Fröhlich von englischen Bap-
tisten ausgegangen ist, und anfangs als deren Missionär functionierte.
Es sind auch die Grundgedanken des Nazarenerthums keine Schöpfung
Fröhlichs, sondern es sind die Grundsätze der alten Baptistengemeinden,
wie sie in ähnlicher Weise zur Zeit der Reformation auftraten in der

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 14, S. 523, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-14_n0523.html)