Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 14, S. 524
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ursprünglichen Reinheit der Lehre. Es ist also die Lehre der Naza-
rener keine Neuschöpfung, sondern sie führt zu einer Verkettung von
Seelen und Traditionen, die man bis in die Zeiten des Urchristenthums
verfolgen kann. Die Staatskirchen waren stets bemüht, diese Secten
als unerhörte Neuerungen und als Schöpfung einzelner Menschen hin-
zustellen, obschon sich in vielen Fällen der Ursprung solcher Secten
mit keinem Namen verbinden lässt und die sogenannten Secten-
gründer auch nur uralte Traditionen wieder lebendig machten, oder
vielmehr aus der Verborgenheit des stillen geheimen Cultus ans Tages-
licht der Öffentlichkeit zu ziehen die Kühnheit hatten, mit dem Feuer-
eifer starker Individualitäten, was dann auch immer wieder die grau-
samsten Verfolgungen der christlichen Staaten und der christlichen
Kirchen veranlasst hat. Es ist aber auch begreiflich, dass jene Secten
wieder die Anhänger dieser christlichen Kirchen nicht für besser er-
achteten, als die Anhänger der heidnischen Staatsreligion und ihnen
den Vorwurf machten, dass sie ihre Herrschaft mit Hilfe aller
Verbrechen aufrecht erhielten, und dass ihre Priester Baalspriester
seien (das heisst Priester der Gewaltherrschaft, denn Baal bedeutet
Herr). So finden wir schon in den ersten Jahrhunderten die Novatianer
und Katharer (d. h. die Anhänger der reinen Lehre), dann die Monta-
nisten, Donatisten, Paulicianer, die albigensischen Katharer, die Gottes-
freunde oder Bogumilen, die Waldenser oder Tisserands, die Picarden,
Spiritualen, Baptisten oder Wiedertäufer, die Mennonisten und Quäcker.
Auch die Taboriten führen auf Waldensischen Ursprung zurück, und
die Mährischen Brüder, dann die Herrenhuter, die sich von diesen ab-
zweigen, so wie ferner eine Reihe russischer Secten, ich nenne nur die in
der Gegenwart so grausam verfolgten Duhoborzen, die alle denselben alt-
evangelischen Charakterzug zeigen, und in ihrer Lebensführung und Ge-
meindeverfassung unleugbar grosse Ähnlichkeit mit den urchristlichen Ge-
meinden zeigen. Es sind wiederholt Fälle vorgekommen, dass Anhänger
solcher Secten, deren Grundsatz ursprünglich die Duldung alles Leidens
und die Lehre der Gewaltlosigkeit war, zum Schwerte griffen, also in das
Verbrechen ihrer Feinde verfielen, aber überall lässt sich nachweisen,
dass nur die unmenschlichste Verfolgung ihrer »christlich rechtgläubigen«
kirchlichen Zeitgenossen sie in letzter Verzweiflung zu den Waffen greifen
liess. So die Paulicianer und Donatisten des römischen Reiches, so die
Albigenser und Waldenser, so die Baptisten der Reformationszeit, im Auf-
stande von Münster, die lange mit friedlichem Duldermuth die entmenschte
Verfolgung ertrugen, in welcher Katholiken und Protestanten in rühriger
Einmüthigkeit miteinander wetteiferten. Die Geschichte dieser urchrist-
lichen Secten ist eine Leidensgeschichte ohne gleichen, und wahrlich an
ihnen sind die Worte der Verheissung Christi in Erfüllung gegangen:
»Siehe, ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe.« »Wenn
sie mich gehasst haben, werden sie auch euch hassen, wenn sie mich
verfolgt haben, werden sie auch euch verfolgen.« Aber es erfüllt sich
an ihnen auch die Zusage: »Sie haben mich umsonst gehasst.« »Der
glimmende Docht wird nicht erlöschen, das geknickte Rohr wird nicht
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 14, S. 524, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-14_n0524.html)