Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 14, S. 525
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zerbrochen werden, bis alles vollendet ist«: bis an die Stelle der
blutigen Herrschaft des »Thieres« jene gewaltlose Herrschaft unend-
lichen Erbarmens tritt.
Ich habe vornehmlich die Lichtseiten jener Secten und hier
vor allem der Nazarener hervorgekehrt, mit denen sie der übrigen
sogenannten christlichen Welt nur als Muster voranleuchten in Ge-
sinnung und Lebensführung. Ich will nun versuchen, eben so unbe-
fangen die Schwächen und Schattenseiten derselben darzustellen.
Diese Schwächen sind im Wesentlichen wieder nur die des
Urchristenthums, die verursachten, dass diese so mächtig aufblühende
Bewegung die Beute der römischen und der byzantinischen Gewalt-
herren wurde, nicht bloss durch deren List und Gewalt oder den Trug
der Priester, wie manche die Sache aufzufassen geneigt sind, sondern
vor allem als Folge eigenen inneren Widerspruches und der Ungereiftheit
und Kindlichkeit ihrer Weltanschauung und Lehre. Diese Kritik wird
uns aber gleichzeitig in grössere Perspective, in eine Zukunftsperspec-
tive hineinführen, in welcher sich die Entfaltung edler Menschlichkeit auf
Grund einer geklärten Weltanschauung auch in ungleich reinerer,
geklärterer Form vollziehen wird.
Christus bekennt, dass das, was dem Geringsten der Menschen-
brüder geschehe, ihm geschehe: er betrachtet sein Ich, sein geistiges
Leben so als allumfassendes göttliches Leben, als ein Leben der Liebe.
Im Selbstbewusstsein Christi fällt das göttliche und das menschliche
Leben zusammen und ist das Himmelreich, das Gottesreich inwendig
in uns. Nicht so im Selbstbewusstsein des Urchristen, der sein Ich
als sündiges schlechtes, ungöttliches bekennt und das Heil darin sucht,
dass er sich äusserlich vor dem Herrn beugt. In solcher Fassung wird
dieser Herr selbst zu einem äusserlichen Herrn, zu einem »Fürsten
dieser Welt«, zu einem grausamen, ja entsetzlichen Weltenrichter.
Die Gewaltherrschaft und Gewaltausübung, die entsetzlichste Grausamkeit,
die der Urchrist auf Erden verdammt, und deren richtendes Gegenbild,
eben jener mit der Dornenkrone der Liebe und des unendlichen Erbarmens
geschmückte Christus ist, wird geheiligt im Himmel im »erhöhten« und
»verherrlichten« Christus, im unerbittlichen Weltenrichter und durch
ihn notwendig auch wieder auf Erden. Die Kirchen sind in dieser
Hinsicht wenigstens consequenter als das Urchristenthum und nur die
folgerichtige Entfaltung dieser Lehre des äusseren Herrn und Fürsten
über diese Welt, eine Würde, die Satan dem Christus am Berge (in
jenem genialen Symbole) anbot und die Christus mit Abscheu zurück-
wies. Dieselben Secten, die jede Gewaltthat und Vergeltung, die von
Menschen ausgeübt wird, verdammen, wiegen sich dann doch wieder
in chiliastischen Träumen, in den Hoffnungen des tausendjährigen
Reiches, welches derselbe Christus, der in den Evangelien alle Erden-
herrlichkeit überstrahlt und richtet durch die heilige Majestät seiner
duldenden Milde, nun an der Spitze eines himmlischen Gewaltheeres
verwirklichen soll, und der dennoch seine Feinde mit den Waffen äusserer
Gewalt überwältigend, nun als entsetzlich grausamer Weltenrichter
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 14, S. 525, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-14_n0525.html)