Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 15, S. 561
Aus dem Tagebuch (Emerson)
Text
Wiener Rundschau.
15. JUNI 1898.
AUS EMERSONS TAGEBUCH.
Mitgetheilt von seinem Sohne, übersetzt von Karl Federn.
Concord, 15. November 1834. (Geschrieben, da Emerson als
Prediger in seine Vaterstadt Concord kam.) Heil den ruhigen Gefilden
meiner Väter. Nicht ganz ungeleitet von übernatürlicher Freundschaft
und Gunst möge ich hieherkommen! Mögen meine Absichten gesegnet
sein, in dem Masse als sie einfach und sittlich sind. Coleridges schöner
Brief*) kommt den Gedanken, die mich erfüllen, gerade zu Hilfe. Sei
es so. Hinfort will ich keine Rede, kein Gedicht, kein Buch von mir
geben, dass nicht gänzlich und speciell mein Eigen ist. Ich will bei
öffentlichen Vorlesungen und Ähnlichem nur solche Dinge sagen, die
ich um ihrer selbst willen und nicht zum ersten Male für die Gelegen-
heit bedacht habe.
1838. Der amerikanische Künstler, der einen Waldgott schnitzen
würde, und der mit dem Walde in Maine vertraut wäre, wo ungeheure
gefallene Fichtenstämme auf »dem Waldboden lasten«, wo riesige Moose,
die von den Bäumen hängen, und die Masse Holz dem Hain eine wilde
und hagere Kraft geben, der würde eine ganz andere Statue hervor-
bringen, als der Bildhauer, der nur europäisches Waldland kennt, —
der geschmackvolle Grieche zum Beispiel.
Es scheint, als ob wir der Literatur gewisse Eindrücke von der
Natur zu verdanken hätten, die die Natur nicht rechtfertigt. Durch die
lateinische und englische Poesie wurde ich zu einem Oratorium von
Lobpreisungen der Natur, der Blumen, der Vögel und Berge, der Sonne
und des Mondes geboren und erzogen, und jetzt erkenn’ ich, dass ich
von all diesen schönen Dingen nichts weiss, dass ich mit der leersten
Oberfläche und dem Schein von allem zu thun gehabt, dass ich von
ihrem Wesen und ihrer Geschichte gar nichts weiss. Und weiter mache
*) Kurz vorher in der Londoner »Literary Gazette« erschienen.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 15, S. 561, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-15_n0561.html)