Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 15, S. 562
Aus dem Tagebuch (Emerson)
Text
ich die traurige Entdeckung, dass niemand, dass alle diese singenden
Dichter selbst nicht — irgend etwas Ernstliches von dieser schönen
Natur wissen, die sie so priesen, dass sie sich mit dem vorübergehen-
den Zirpen eines Vogels begnügten, oder seine ausgebreitete Schwinge
in der Sonne sahen, als er vorüberflatterte, dass sie ein oder zwei
Morgen in ihrem Leben sahen und theilnahmslos den Sonnenuntergang
schauten, und diese kargen Einblicke gedankenlos in ihrem Sang
wiederholten.
Wenn ich in den Wald gehe, finde ich alles neu und unbeschrieben,
nichts ist mir je gesagt worden. Das Schreien der wilden Gänse hat
noch Keiner gehört; die dünne Note der Meise und ihr keckes Ignorieren
des bei ihr Stehenden; der Fall der Fliegen, die wie Regen auf die
Blätter klatschen, das ärgerliche Zischen eines Vogels, der gestern gegen
mich schalt, die Bildung des Harzes und alle Vegetation und alles Leben,
überhaupt alles und jedes sind gleicherweise unbeschrieben. Jeder Mensch,
der in den Wald geht, scheint der erste Mensch zu sein, der je in einen
Wald gieng. Seine Empfindungen und seine Welt sind neu. Man möchte
manchmal glauben, dass über Morgen und Abend nichts mehr gesagt
werden kann, und die Wahrheit ist, es ist noch gar nie angefangen
worden, Morgen oder Abend zu schildern.
Wenn ich sie sehe, dann werde ich an jene Homerischen oder
Wilton’schen oder Shakespeare’schen oder Chaucerischen Bilder nicht
erinnert, sondern ich habe die schmerzliche Empfindung einer fremden
Welt oder die Freude der feuchten, warmen, glitzernden, knospenden
und melodischen Stunde, die die engen Wände meiner Seele hinweg-
nimmt und ihren Puls und ihr Leben bis zu den Grenzen des Horizontes
ausdehnt. Das ist der Morgen; dass man für eine lichte Stunde aufhört der
Gefangene dieses schwächlichen Leibes zu sein und weit wird wie die Welt.
Juni 1841. Die Blumen in letzter Zeit, namentlich wenn ich eine
alte Bekannte in diesem Jahr zum erstenmal sehe — eine Gerardia,
eine Leopedeza — haben viel über Leben und Tod zu sagen. »Ihr
discutirt viel über die Unsterblichkeit«, scheinen sie zu sagen. »Hier
ist sie, hier sind wir, die nichts darüber gesagt.« Und als ich letzthin
von einem erhabenen Felsen hinabsah, da schien unser menschliches
Leben sehr kurz neben diesem sich immer erneuendem Geschlechte
der Bäume. »Euer Leben« sagen sie, »ist nichts als ein paar Ansätze
meines Gipfels. Immer wieder sprosst der Wald, immer wieder erneuert
unsere feierliche Kraft ihre Knorren und Knoten, ihre Blattknospen
und Wurzelfasern«. Gras und Bäume haben keine Individualität,
wie der Mensch sie zählt. Die Fortsetzung ihrer Rasse ist Unsterb-
lichkeit, die Forsetzung unserer ist es nicht. Und so triumphieren
sie über uns, und wenn wir antworten oder etwas sagen wollen,
hält der gute Baum uns ein Bündel grüner Blätter vors Gesicht
oder das wilde Geissblatt seine fünf anmuthigen Finger und sieht
so stupid-schön aus, so unschuldig erhaben über allen Streit und
alle Gründe, dass uns der Mund geschlossen wird, und die Natur das
letzte Wort behält.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 15, S. 562, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-15_n0562.html)