Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 15, S. 563
Aus dem Tagebuch (Emerson)
Text
Ich kann nicht sagen, warum ich mich in der Natur so sehr
als Fremdling fühle. Ich bin nur eine Berührungslinie ihres Kreises,
und liege nicht in einer Ebene mit ihrer Schönheit. Und doch bleibt das
Dictat der Stunde, dass ich alles vergesse, was ich misslernt habe,
dass ich aufhöre Mensch zu sein und mich in die weite Form der
Natur giesse.
Januar 1841.
All’ meine Gedanken sind Waldbewohner. Ich habe kaum einen
Tagestraum, auf den der Athem dieser Fichten nicht gehaucht hat,
über dem ihre Schatten nicht wogten. Soll ich nun nicht mein kleines
Buch Wald-Essays nennen?
1837. Dieses Buch ist meine Sparcassa. Ich werde reicher, weil
ich meine Einnahmen irgendwo deponieren kann, und all die Bruch-
theile werden wertvoller, weil entsprechende Bruchtheile sie hier er-
warten, die durch ihr Hinzukommen zu Ganzen werden.
—. Die Naturgeschichte an sich hat keinen Wert. Sie ist wie
ein Geschlecht ohne das andere; aber vermähle sie mit der Menschen-
geschichte und sie wird Poesie. Ganze Bände von Botanik, alle Werke
Linné’s oder Buffon’s enthalten nicht eine Zeile Poesie, aber die ge-
wöhnlichste natürliche Thatsache, die Gewohnheit einer Pflanze, die
Organe, die Arbeit, das Geräusch eines Insects, auf irgend eine That-
sache des Menschenlebens angewendet, wird sogleich Schönheit, Wahr-
heit und Poesie.
1840. Was unter allen Werken der Kunst ist lebendiger als
unsere alte, einfache, hölzerne Kirche, die vor eineinviertel Jahrhunderten
gebaut worden, mit ihrem alterthümlichen neu-englischen Kirchthurm.
Ich gehe bei Nacht daran vorüber und stehe und lausche auf die
Schläge ihrer Uhr, wie auf Schläge eines Herzens; die, wie Elisabeth
Hoar so gut bemerkte, nicht so sehr wie ein Ticken, als wie ein Schritt
tönen. Es ist der Schritt der Zeit. Man wird des Tons völlig gewahr,
wenn man auf das Blatt der Uhr sieht. Und dann fällt der Blick auf
den hölzernen Thurm, der so allein, aber bejahrt und dunkel zu den
mitternächtigen Sternen aufsteigt. Er hat verwandtschaftliche Vorrechte
bei ihnen. Nicht weniger als die marmorne Kathedrale hatte auch er
seinen Ursprung in hohem Sehnen, in der erhabenen Religion der
Menschen. Nicht weniger als die Sterne, auf die er weist, begann er
sein Sein in der Seele.
—. Heut’ in der Kirche fühlte ich, wie ungleich der Kampf der
Worte mit den Dingen ist. Höre doch auf, Du unberechtigter Plau-
derer, über Trost und Resignation und geistliche Freuden in wohl-
erwogenen, gedrechselten Sätzen zu schwatzen! Denn ich kenne ja
die Menschen, die unten sitzen und aufschauen, wenn sie diese Worte
hören. Sei doch schnell still! Sorge und Unglück sind Dinge für sie.
Da sitzt Mr. A., der Schuhmacher, dessen Tochter wahnsinnig geworden,
Und er sieht durch seine Brille nach Dir, um zu hören, was Du seinem
Unglück bieten kannst. Da sitzt mein Freund, den all seine Schüler
verlassen, und er weiss nicht, was er nun in die Hand nehmen soll.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 15, S. 563, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-15_n0563.html)