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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 15, S. 564

Text

564 EMERSON.

Da sitzt meine Frau, die in die Kirche gekommen ist, in der Hoffnung,
getröstet und gekräftigt zu werden, nachdem die scharfe Zunge einer
unsauberen Person sie im Hause verwundet hat. Da sitzt der Post-
kutscher, der die Gelbsucht hat und nicht gesund werden kann. Da
sitzt B., der in der letzten Woche fallierte, und auch er sieht zu Dir
empor. O, sprich Dinge zu ihnen oder halte den Mund.

—. Mich entzückt unsere hübsche Kirchenmusik und besonders
wenn ich das arme unscheinbare Mädel höre, wie sie ohne Erziehung,
ohne viel Gedanken, doch solch feinen Instinct in ihrem Singen zeigt,
so, dass jede Note ihres Gesangs mir wie ein Ereignis und ein Sieg
in der »Tonwelt«*) klingt; während der ganze Chor, ausser ihr, sich
ängstlich nach dem Vorsänger und nach dem Bass richtet, geht diese
Engelsstimme suchend, suchend, suchend immer höher, und hält mit
der Präcision des Genies ihren sicheren Weg ein, und überflutet das
Haus mit Melodien.

—. Wieder schöne Melodien in der Kirche. Immer dank ich
der gnädigen Urania, wenn unser Chorführer Weisen mit Solopartien
für meine Sängerin wählt. Mein Ohr wartet auf diese süssen Modula-
tionen, die so rein von aller persönlichen Manier, so universell sind,
dass sie das Ohr öffnen, wie das Ansteigen des Windes.

1838. Heut’ in der Kirche sah ich jenes wunderschöne Kind —
und meinen feinen, natürlichen, männlichen Nachbar, der den Communi-
canten Brod und Wein mit so klaren Augen und mit so vortrefflichem
Gesicht und Haltung bot. Aber das war auch alles was ich in der
Kirche sah, das an Gott erinnerte. Möge die Geistlichkeit sich in Acht
nehmen, wenn die Wohlgesinnten und Gebildeten zu sagen beginnen:
»Ich kann nicht in die Kirche gehen, die Zeit ist zu kostbar.«

Juni 1845. Es war ein Vergnügen gestern den ganzen Tag
Pater Taylor**) in unserer Landkirche predigen zu hören. Die Menschen
haben doch immer Interesse, wenn ein Mensch kommt, und all die
mannigfachen Extreme unserer kleinen Dorfgesellschaft wurden einmal
zusammengebracht. Schwarze und Weisse, Dichter und Greisler, Unter-
nehmer und Holzknecht, Methodisten und Prediger schlossen sich der
wöchentlichen Gemeinde mit seltener Einmüthigkeit an.

—. Gott baut seinen Tempel im Herzen und auf den Ruinen
aller Kirchen und Religionen.

—. Skeptiker und Ungläubige sind für mich nicht Ungläubige,
sondern Kritiker, gläubig sind alle und müssen es sein.


*) Deutsch im Original.

**) Berühmter katholischer Missionsprediger.


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 15, S. 564, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-15_n0564.html)