Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 14, S. 526
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erscheint, der über schwache Geschöpfe ewige Qualen verhängt. In
solchen Träumereien wiegen sich auch die Nazarener. Ich hatte einmal
Gelegenheit, mit den Altesten einer Nazarenergemeinde über diesen
Punkt zu conferieren.
Ich sprach ihnen meine Hochachtung aus vor den Lebens-
grundsätzen, die sie befolgten, bedauerte jedoch, dass sie die Lehre
Christi allzubildlich buchstäblich verständen und so, ohne es zu wissen,
in Ansichten verfielen, die den ärgsten Gotteslästerungen gleichkämen.
Ich stellte an sie die Frage, ob man von Gott etwas aussagen dürfe,
was bei den Menschen als Schlechtigkeit und Verworfenheit verdammt
werden müsse. Als sie antworteten, dass man solches nicht von Gott
behaupten dürfe, stellte ich an sie nun die fernere Frage, ob ein
Mensch, der sich an seinen Beleidigern räche, ja unmenschlich grausam
räche, wohl ein guter oder ein schlechter Mensch zu nennen sei und
auf die unzweifelhafte Antwort auf diese Frage, dass es also nach
ihrem eigenen Zugeständnisse die ärgste Gotteslästerung sei, wenn man
Gott eine so unmenschlich grausame Vergeltung an schwachen Ge-
schöpfen zuschreibe, verliess die Leute ihre Consequenz und sie meinten,
bei Gott sei das etwas ganz Anderes, der könne machen, was er für
gut halte.
Indem das Verbot des Waffentragens für die Secte auch mehr
ein äusseres Gebot ist, als eine aus dem ganzen Geist ihrer Weltan-
schauung sich ergebende Lebensregel, so zeigt ihr Verhalten in dieser
Beziehung auch eine gewisse Halbheit und sind die Anhänger Leo
Tolstois oder auch die von diesem Propheten wesentlich beeinflussten
russischen Duhoborzen oder Geisteskämpfer viel consequenter. Die
Nazarener verweigern zwar den Eid und den Gebrauch der Waffe,
aber sie sind zum Militärdienst bei der Sanität oder auch im Trainwesen und
überhaupt unter der Bedingung geneigt, dass sie die Waffe nicht zu hand-
haben brauchen. Sie dulden es dann, dass man ihnen dieselbe (meist
durch einen Kameraden, um der Form zu genügen, dass sie selbst die
Waffe nicht in die Hand nehmen) umhängen lasse. Solche Compro-
misse haben unter gutmüthigen Commandanten schon viele Nazarener
vor langjährigem Gefängnis bewahrt. Ja unlängst bat sogar eine
Deputation ungarischer Nazarener den König um die Gewährung der
Gunst, nur unter dieser Form dienen zu dürfen, was, als reglement-
widriges Privilegium natürlich nicht gewährt werden konnte. Um für
ihre Bitte einen mächtigen Fürsprecher zu gewinnen, gieng die Deputation
auch zu Moriz Jókai. Dieser, Präsident der Friedensliga, erwiderte
ihnen jedoch, dass er selbst im Nothfall das Schwert zu ergreifen
gesonnen sei. Ungleich consequenter als die Nazarener, war der
Anhänger Leo Tolstois, Albert Skarvan, der sich weigerte, seinen
Dienst als Militärarzt weiter zu leisten, indem er jede Theilnahme am
Kriegshandwerk im consequent juridischen Sinne von seinem Stand-
punkte aus als Mitschuld qualificierte. Eine andere Schattenseite der
Nazarenergemeinde, die mit dem sittlichen Rigorismus und dem Principe
des Hinhaltens äusserer Moralregeln zusammenhängt, ist die oft klein-
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 14, S. 526, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-14_n0526.html)