Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 14, S. 527

Die Nazarener (Schmitt, Dr. Eugen Heinrich)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 14, S. 527

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DIE NAZARENER. 527

liche Controle der Lebensführung, die die Mitglieder der Secte gegen-
seitig ausüben, was zu vielem »Richten« und zu Médisance Ver-
anlassung gibt, eine Erscheinung die auch in Klöstern oft beobachtet
wird. Das alles hängt meiner Ansicht nach mit der Ungereiftheit der
Weltanschauung, mit ihrem theologischen Grundcharakter zusammen,
der alles auf äussere Gottesgebote stützt und ihrer Moral so den
Stempel der Äusserlichkeit aufdrückt oder doch wenigstens die Ent-
faltung einer vollkommen verinnerlichten freien Sittlichkeit unmöglich
macht.

Die Weltanschauung dieser schlichten Leute ist übrigens ganz
diejenige der Bibel und der Evangelien, und man wird in ihrem Um-
gang förmlich hinübergezaubert in jene längst niedergegangene Cultur-
welt. Sie schauen in der kindlich naiven Weise über dem Sternenzelt
den Thron Gottes mit dem himmlischen Hofstaate der Engel und der
Heiligen — als wenn Giordano Bruno niemals aufgetreten wäre, der
die krystallene Sphäre jenes Himmels der Theologie zerbrochen hatte
wie Glas, und dem Menschengeist den Ausblick eröffnet in die
schrankenlose Sternenunendlichkeit, die keinen Raum mehr hat für
solche gemüthvolle Ruhestätten der Phantasie. Ich hatte Gelegenheit,
mit einem ungarischen Nazarener, der in Sachen seiner Secte lite-
rarisch thätig war und ihrer Lehre einen noch mehr communistischen
Charakter zu verleihen suchte, zu verkehren und bemühte mich ver-
gebens, den Mann aus der altevangelischen Enge seines Gesichtskreises
zu befreien und der Weltanschauung des grossen Nolaners nahe zu
bringen. Wenn nun dieser relativ gebildetere, intellectuell in seinen
Kreisen gewiss über die Menge der Gemeinde hervorragende Mann
sich so verhält in dieser Frage, so wirft das ein grelles Streiflicht
auf die anachronistische Beschränktheit des Gesichtskreises der Secte.

Ungarn ist der Ort, wo die Nazarener zur grössten Blüte
gelangten, so wie auch der Baptismus überhaupt, als dessen Ver-
zweigung und radical-urchristliche Ausgestaltung der Nazarenismus zu
betrachten ist, hier zu ganz besonderer Blüte gelangte, und sich heute
noch rapid verbreitet. Die Ursachen sind allgemeine culturelle und
sociale. Ungarn ist im Vergleich mit den westlichen Ländern relativ
culturell zurückgeblieben; die specifisch christliche Cultur, die bei den
germanischen Völkern ihren Höhepunkt erreicht hat, hat hier keine
tiefen Wurzeln geschlagen und erscheint oft nur als oberflächlicher
Anstrich. Mit dem Verfalle dieser Cultur gehen nun die sittlichen,
religiösen und rechtlichen Grundlagen dieser Cultur gerade hier einer
viel rapideren Auflösung entgegen, als in den germanischen Ländern.
Die beispiellose Corruption und Demoralisation des Landes, die von
einer cynisch-brutalen Gewalt vollzogene Selbstzerstörung aller sittlichen
Grundanschauungen und rechtlichen Institutionen illustriert diese Be-
hauptung. Die Urkraft eines intellectuell sehr hochbefähigten Volkes
hat aber zugleich den jungfräulichen Boden bewahrt, trotz der rapiden
Verderbnis der oberen, herrschenden Schichten in Ungarn. Die Paral-
lele mit der decadenten römisch-griechischen Cultur ist augenfällig

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 14, S. 527, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-14_n0527.html)