Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 14, S. 528
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und es ist daher auch natürlich, dass für intellectuell relativ, zurück-
gebliebene Volksschichten das Eingehen in solche urchristliche Gedanken-
kreise als normalerer Gang der Entwicklung erscheinen muss, als der
intellectuelle und sittliche Halt, der sich ihnen bietet bei dem Zu-
sammenbruche der alten Weltanschauung und der öffentlichen Moral.
Andererseits aber bietet die ausnehmend hohe intellectuelle Befähigung
und dementsprechend vorgeschrittene Aufklärung gerade der grossen
Massen des ungarischen Landvolkes eine Bürgschaft dafür, dass diese
jetzt zum grösseren Theil in einer unabhängig socialistischen Bewegung
begriffenen Massen trotz dem entmenschten Terrorismus der Herr-
schenden den Weg finden werden zu jener Weltanschauung, in deren
innerer Allanschauung, in der Anschauung der Vernunft und der Liebe
diese Sternenunendlichkeit versunken ist im Ich, in der Individualität,
die in bisher ungeahnter, in göttlicher Würde erstehen soll einem
neuen Weltalter, dessen »inneres Himmelreich« kein Giordano Bruno
mehr aufzulösen vermag im Alllichte des Gedankens, weil es dieses
Licht selbst ist. Eine edlere Gestaltung menschlicher Lebensverhältnisse,
ein »Paradies auf Erden«, jenes von den Chiliasten oder auch den
Socialisten erträumte Gottesreich kann sich aber nur im Himmelslichte
einer edleren Gesinnung und Weltanschauung entwickeln.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 14, S. 528, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-14_n0528.html)