Text
Wohlverstanden, ich spreche hier vom aufrichtigen, überzeugten
Wähler, vom theoretischen Wähler, von dem armen Teufel, welcher
sich einbildet, die That des freien Bürgers zu vollbringen, seine
Souveränität zu demonstriren, seiner Meinung Ausdruck zu geben,
politische Programme und sociale Forderungen — o bewunderungs-
würdige und betrübende Narrheit! — durchzusetzen. — Nicht vom
Wähler, der in sich diesen Sachen »auskennt« und darüber moquirt.
Die Souveränität dieses »Wissenden« besteht darin, auf Kosten des
allgemeinen Wahlrechtes zu wohlgefüllten Taschen zu kommen. Der
ist hier in seinem wahren Element, für dieses eine Moment interessirt
er sich aus Geschäftsinteresse, das Uebrige ist ihm gleichmütig. Er
weiss, was er will. Aber die Anderen?
Ach ja, die Anderen! Die Ernsthaften, die Unerbittlichen, die
Herren »Souveränes Volk«, Jene, welche zu einer Art Trunkenheit
kommen, wenn sie sich ansehen und sagen: »Ich bin Wähler. Nichts
geschieht ohne mich. Ich bin die Grundlage der modernen Gesell-
schaft.« — Wieso existiren noch Leute von solcher Beschaffenheit? So
eingenommen, so sicher, so paradox sind sie, wie kommt es, dass sie
nicht entmuthigt werden, nicht beschämt vor ihrem Werke stehen?
Wie kann es kommen, dass noch irgend ein guter Kerl, meinetwegen
aus dem verstecktesten Gebirgsnest, so stupid, so unverständig, so
blind und taub gegenüber den Thatsachen ist, um noch weiss oder
schwarz, oder roth zu wählen, ohne bestochen, ohne betrunken worden
zu sein?
Welchem wunderlichen Gefühl, welcher mysteriösen Suggestion
muss dieser denkende Zweifüssler gehorchen, der von einem starken
Willen getrieben ist, von dem man etwas verlangt und der es thut,
stolz auf sein Recht, überzeugt, dass er eine Pflicht erfüllt, wenn er
in eine Wahlurne irgend einen Zettel legt, was immer er auch darauf-
schreibt?
Was muss er sich wohl innerlich sagen, wenn er sich diese
extravagante Handlung rechtfertigt oder wenigstens klarmacht? Was
erhofft er? Denn schliesslich, um einzuwilligen, dass er sich einigen
geschwätzigen oder habgierigen Herren ausliefert, die ihn benützen
und bedrücken, muss er sich doch irgend etwas sagen, irgend etwas
erhoffen, was wir nicht vermuthen. Er muss irgend welchen cerebralen
Verirrungen erliegen, der Gedanke »unser Abgeordneter« muss irgend
welche Ideen von Wissen, Gerechtigkeit, Aufopferung, von Arbeit und
Redlichkeit auslösen. Es muss wohl schon in den Namen von Rouvier
oder Wilson, oder wie sie anderswo heissen, ein specieller Zauber
liegen. Eine Fata morgana muss wohl in diesen Namen liegen, Ver-
heissungen künftigen Glücks und baldiger Heilung. Und das ist wirklich
erschreckend. Nichts dient da zur Lehre, weder die burlesken Comödien
noch die finsteren Tragödien des Parlamentarismus.
Und dennoch hat, so lange die Welt besteht, die Gesellschaften
sich folgen und ablösen — eine gleicht der anderen — stets nur eine That-
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 13, S. 514, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-13_n0514.html)