Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 12, S. 441
Text
Wiener Rundschau.
1. MAI 1898.
FRIEDRICH NIETZSCHE IN WEIMAR.
Von Philo vom Walde (Neisse).
Als er noch unter den geistig Lebenden weilte und mit titanen-
hafter Kraft am Gesellschaftsbau des modernen Lebens rüttelte, da hat
man ihn todtgeschwiegen. Wie glücklich hätte ihn damals die Aner-
kennung einer einzigen befreundeten Seele gemacht! Aber alle hatten
sie sich von ihm losgesagt. Jetzt, wo er als geistig Todter daliegt und
auf nichts mehr antworten kann, wird sein Name unzähligemale ge-
nannt. Eine ganze Bibliothek ist bereits über das Thema »Friedrich
Nietzsche« geschrieben worden, und wer eine kleine Ahnung davon
bekommen will, wie mächtig das moderne Kunstschaffen von ihm be-
einflusst ist, der lese das soeben erschienene Buch: »Der Uebermensch
in der Literatur« von Leo Berg (München, Albert Langen). Spasshaft
klingt es, wenn die Gegner behaupten: Nietzsche sei nur ein Mode-
philosoph, über den bald kein Hahn mehr krähen werde. Es muss wohl
eine Zeit kommen, wo sein Name nicht mehr durch den Mund eines
jeden Bildungsphilisters und Protzen entweiht wird — aber kein Zeiten-
sturm kann die Spur seiner Erdentage je mehr ganz verwischen.
Gegenwärtig liebt man es, sich nicht nur mit dem Dichter und
Philosophen Nietzsche zu befassen, sondern auch allerlei Menschliches-
Allzumenschliches in der Oeffentlichkeit breitzutreten, so dass jede feiner
organisirte Natur eine förmliche Scham über solche Pietätlosigkeit
empfindet. Wie bitter klang vor zwei Jahren die Klage der Mutter
Nietzsche’s, als sie mir von der Unzartheit erzählte, mit der sich die
lieben Naumburger an den Kranken herandrängten, sobald man ihn
im Fahrstuhl ins Freie brachte, um ihn frische Luft geniessen zu lassen.
Und kurze Zeit vor ihrem Tode noch schrieb mir die leidensmuthige
Frau: »Es mag nur Niemand den Zeitungsberichten glauben, wenn
Berichterstatter über ihre Artikel ‚Ein Besuch bei Friedrich Nietzsche‘
setzen und Unglaubliches erzählen. Ahnen solch rohe Naturen doch
kaum, was ein Mutter- und ein Schwesterherz dabei empfinden!«
Die Sensationslust geht so weit, dass man vor anderthalb Jahren
eine Notiz in der Presse fand, wonach Friedrich Nietzsche als lustiger
Bergfex auf dem Hohentwiel gewesen sei und dort einen Aphorismus
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 12, S. 441, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-12_n0441.html)