Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 439

Herzfeld, »Die skandinavische Literatur und ihre Tendenzen nebst anderen Essays« Spitteler, »Lachende Wahrheiten«

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 439

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NOTIZEN. 439

haben, ist auf diesem Gebiete
heimisch geworden und hat sich
dieser Gedankenwelt bemächtigt,
ohne den Zusammenhang mit der
Weltliteratur aus dem Auge zu
verlieren. Die Schrift ist eine
durchaus anregende, und das Ur-
theil der Verfasserin interessirt uns
lebhaft, weil es das Gepräge eines
selbstständigen, wohlcultivirten
Geistes trägt. Mit dem Buche der
Herzfeld machen wir eine litera-
rische Zimmerreise durch den Nor-
den, die gelungenen Aufnahmen
prägen sich dem Beschauer ein,
geben zutreffende Bilder der ein-
zelnen Erscheinungen und wer-
den Viele veranlassen, sich ins
Land der geschilderten Dichter
selbst zu begeben. Damit ist der
Zweck solcher gesammelter Essays
aufs Beste erfüllt. Es bleibt immer
eines der merkwürdigsten Phäno-
mene, dass der skandinavische
Norden im letzten Viertel unseres
Jahrhunderts eine so ansehnliche
Reihe von literarischen Charakter-
köpfen hervorgebracht hat, in denen
sich der Geist unserer Zeit und die
Ergebnisse unseres Denkens und
Empfindens zu Gestalten und Dar-
stellungen verdichten, denen eine
starke Rückwirkung auf die Welt-
literatur nicht abgesprochen werden
kann. Die innere Entwicklung der
nordischen Länder sowie die Rich-
tung und Intensität ihrer socialen
und culturellen Neugestaltung dürfte
vielleicht mehr Antheil an der Zeiti-
gung so vieler verschiedenartiger
Geister gehabt haben als der Werde-
ruf Georg Brandes’, auf den die
Verfasserin die Entstehung dieser
Literatur etwas einseitig zurück
führen will. Ihre Signatur ist das
Suchen — weniger das Finden
Es ist aber Pflicht und Bestimmung

fein veranlagter receptiver Geister,
ehrlich Suchenden auf ihren Pfaden
zu folgen, ihre künstlerische Art
liebevoll eingehend zu betrachten
und das kritische Richtschwert
möglichst ungeschwungen zu lassen.
Auf eine Production, die dem inneren
Drang entquillt, fällt das letztere
als Papiermache nieder — eisern
zeigt es sich nur dem Gemeinen,
dem Speculativen gegenüber. Dass
es sich bei der nordischen Literatur
nicht um Marktwaare handelt, kann
diese leicht dadurch erweisen, dass
einer ihrer begabtesten Vertreter
— Knut Hansum — den selbst
erlittenen Hunger zum Gegenstand
einer ebenso erschreckenden als
lebenswahren Novelle gemacht hat.
Es soll der Arbeit Marie Herzfeld’s
nicht als letzter ihrer Vorzüge
nachgerühmt werden, dass sie nicht
überkritisch ist. Die Kraftanstren-
gungen, welche die nordischen
Schriftsteller machen, um Pessi-
mismus und Skepticismus unter
Verzicht auf religiösen Glauben zu
überwinden, sind in diesem Buche
eingehend und überzeugend ge-
schildert. Werden sie zum Ziele
führen? Uns ist gegeben, auf
keiner — auch nicht auf einer
geistigen — Stätte zu rasten.

G. S.

Carl Spitteler, Lachende
Wahrheiten
. Gesammelte Essays.
Verlag von Eugen Diederichs.
Florenz und Leipzig. 1898.

Trotzdem die Essayisten jetzt
nicht wenig Ablagerungsstätten
für ihre Arbeiten haben, gibt es
nur ganz wenige lesbare deutsche
Essays. Die primitiven Impotenzen
unter den Essayisten machen es
sich am leichtesten, sie schneiden
aus den Autoren, über welche
sie schreiben, ein paar Citate heraus

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 439, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-11_n0439.html)